Mai ‍‍2024 - תשפד / תשפה

Heiliges Volk, Heiliges Land

   Ich hatte zwei Jahre lang einen Dialog mit einem Imam aus dem Nahen Osten geführt, einem sanften, scheinbar gemäßigten Mann. Eines Tages, mitten in unserem Gespräch, wandte er sich an mich und fragte: „Wozu braucht ihr Juden eigentlich ein Land? Das Judentum ist doch eine Religion und kein Land oder eine Nation“.

An diesem Punkt beschloss ich, den Dialog zu beenden. Es gibt 56 islamische Staaten und mehr als 100 Nationen, in denen Christen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Es gibt nur einen jüdischen Staat, 1/25 der Größe Frankreichs, etwa so groß wie der Krüger-Nationalpark in Südafrika. Es ist schwierig, mit jenen zu diskutieren, die glauben, dass die Juden als einziges Volk der Welt kein Recht auf ein eigenes Land haben.

Aber die Frage, ob wir ein eigenes Land brauchen, ist es wert, untersucht zu werden. Wie D.J. Clines in seinem Buch The Theme of the Pentateuch [Das Thema des Pentateuchs] erklärt, besteht kein Zweifel daran, dass die zentrale Erzählung der Tora die Verheißung des Landes Israel und die Reise dorthin ist. Doch warum ist das so? Warum brauchte das Volk des Bundes ein eigenes Land? Warum war das Judentum nicht einerseits eine Religion, die von Individuen an jedem beliebigen Ort praktiziert werden konnte, oder andererseits eine Religion wie das Christentum oder der Islam, deren Endziel es ist, die Welt zu bekehren, damit alle den einen wahren Glauben praktizieren können?

Der beste Ansatz zur Beantwortung dieser Frage ist ein wichtiger Kommentar des Ramban (Nachmanides, Rabbi Moses Ben Nachman Girondi, geboren 1194 in Gerona, gestorben 1270 in Israel) zur Parascha dieser Woche. Kapitel 18 enthält eine Liste verbotener sexueller Praktiken. Es schließt mit einer eindringlichen Warnung:

„Verunreinigt euch nicht auf eine dieser Weisen; denn so haben sich die Völker verunreinigt, die ich vor euch vertreiben werde. Das Land wurde verunreinigt; darum habe ich es für seine Sünde bestraft, und das Land hat seine Bewohner ausgespien. Ihr aber sollt meine Gebote und meine Satzungen halten. Wenn ihr das Land verunreinigt, wird es euch ausspeien, wie es die Völker vor euch ausgespien hat“ (Lev. 18, 24-28).

Nachmanides stellt die naheliegende Frage. Belohnung und Bestrafung beruhen in der Tora auf dem Prinzip Mida kenegged Mida, Maß für Maß. Die Strafe muss der Sünde oder dem Verbrechen entsprechen. Es macht Sinn zu sagen: Wenn die Israeliten die Mizwot hatelujot Ba’arez, die Gebote, die sich auf das Land Israel beziehen, vernachlässigt oder gebrochen haben, dann ist die Strafe die Verbannung aus dem Land Israel. So steht es in den Flüchen der Tora im Wochenabschnitt Bechukotai:

„Solange es wüst liegt, wird das Land die Ruhe haben, die es an den Sabbaten nicht hatte, an denen ihr darin gewohnt habt“ (Lev. 26:35).

Die Bedeutung ist klar: Dies ist die Strafe für die Nichteinhaltung der Gesetze der Schemita, dem Schabbat-Jahr. Schemita ist ein Gebot, das sich auf das Land bezieht. Deshalb ist die Strafe für die Nichteinhaltung die Verbannung aus dem Land.

Sexuelle Vergehen haben jedoch nichts mit dem Land zu tun. Sie sind Mizwot hatelujot Baguf, Gebote, die sich auf die Person und nicht auf den Ort beziehen. Der Ramban antwortet, dass alle Gebote untrennbar mit dem Land Israel verbunden sind. Es ist einfach nicht dasselbe, in der Diaspora Tefillin zu legen, Kaschrut oder Schabbat zu halten, wie in Israel. Um seine Position zu untermauern, zitiert er den Talmud (Ketubot 110b), in dem es heißt: „Wer außerhalb des Landes lebt, ist, als hätte er keinen Gott“. Ähnlich heißt es im Sifre: „Das Leben im Land Israel ist genauso wichtig wie alle Gebote der Tora“. All dies bedeutet, dass die Tora die Verfassung eines heiligen Volkes im Heiligen Land ist.

Der Ramban erklärt dies auf mystische Weise, aber wir können es auch auf nicht-mystische Weise verstehen, indem wir über die ersten Kapitel der Tora und die Geschichte nachdenken, die sie über den Zustand des Menschen und Gottes Enttäuschung über die einzige Spezies – uns – erzählen, die Er nach Seinem Ebenbild geschaffen hat. Gott wollte eine Menschheit, die sich aus freiem Willen dafür entscheidet, den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen. Aber sie entschied sich anders: Adam und Eva sündigten. Kain erschlug seinen Bruder Abel. In kurzer Zeit „war die Erde voller Gewalt“ und Gott „bereute, dass Er den Menschen auf der Erde erschaffen hatte“. Er ließ eine Sintflut kommen und begann von neuem, diesmal mit dem gerechten Noah, aber die Menschen enttäuschten Ihn wieder, indem sie eine Stadt mit einem Turm bauten, von dem aus sie den Himmel erreichen wollten, und Gott wählte einen anderen Weg, um die Menschheit dazu zu bringen, Ihn anzuerkennen – diesmal nicht durch allgemeingültige Regeln (obwohl es die weiterhin gab, nämlich in Form des Bundes, den Gott durch Noah mit der ganzen Menschheit schloss), sondern durch ein lebendiges Beispiel: Abraham, Sara und ihre Kinder.

Der Ramban erklärt dies auf mystische Weise, aber wir können es auch auf nicht-mystische Weise verstehen, indem wir über die ersten Kapitel der Tora und die Geschichte nachdenken, die sie über den Zustand des Menschen und Gottes Enttäuschung über die einzige Spezies – uns – erzählen, die Er nach Seinem Ebenbild geschaffen hat. Gott wollte eine Menschheit, die sich aus freiem Willen dafür entscheidet, den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen. Aber sie entschied sich anders: Adam und Eva sündigten. Kain erschlug seinen Bruder Abel. In kurzer Zeit „war die Erde voller Gewalt“ und Gott „bereute, dass Er den Menschen auf der Erde erschaffen hatte“. Er ließ eine Sintflut kommen und begann von neuem, diesmal mit dem gerechten Noah, aber die Menschen enttäuschten Ihn wieder, indem sie eine Stadt mit einem Turm bauten, von dem aus sie den Himmel erreichen wollten, und Gott wählte einen anderen Weg, um die Menschheit dazu zu bringen, Ihn anzuerkennen – diesmal nicht durch allgemeingültige Regeln (obwohl es die weiterhin gab, nämlich in Form des Bundes, den Gott durch Noah mit der ganzen Menschheit schloss), sondern durch ein lebendiges Beispiel: Abraham, Sara und ihre Kinder.

In Genesis 18 macht die Tora deutlich, was Gott von Abraham wollte: Er sollte seine Kinder und sein Haus nach ihm lehren, „den Weg des Ewigen zu bewahren und zu tun, was recht und angemessen ist“. Der Homo sapiens ist, wie Aristoteles und Maimonides sagten, ein soziales Tier, und Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit sind Merkmale einer guten Gesellschaft. Die Geschichte von Noah und der Arche lehrt uns, dass ein rechtschaffener Mensch sich selbst retten kann, nicht aber die Gesellschaft, in der er lebt, es sei denn, er ändert diese Gesellschaft.

Zusammengenommen sind die Gebote der Tora ein Rezept für den Aufbau einer Gesellschaft, in deren Zentrum das Bewusstsein Gottes steht. Gott ruft das jüdische Volk auf, durch die Form und das Wesen seiner Gesellschaft ein Vorbild für die Menschheit zu werden, eine Gesellschaft, die sich durch Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit, durch Wohltätigkeit und Fürsorge für die Armen, Ausgegrenzten, Verletzlichen und Schwachen auszeichnet, eine Gesellschaft, in der alle unter der Herrschaft Gottes die gleiche Würde besitzen. Eine solche Gesellschaft würde die Bewunderung und schließlich die Nachahmung anderer gewinnen:

„Siehe, Ich habe euch Satzungen und Gesetze gelehrt…, damit ihr sie in dem Land, in das ihr einzieht, um es in Besitz zu nehmen, befolgt. Beachtet sie genau, denn dies wird eure Weisheit und euer Verständnis sein vor den Völkern, die von all diesen Satzungen hören und sagen werden: ‚Dieses große Volk ist zweifellos ein weises und kluges Volk…‘ Welches andere Volk ist so groß, dass es so gerechte Satzungen und Gesetze hat wie dieses Gesetz, das Ich euch heute vorlege?“ (Deut. 4:5-8).

Eine Gesellschaft braucht ein Land, eine Heimat, einen Ort im Raum, an dem eine Nation ihr eigenes Schicksal entsprechend ihren tiefsten Sehnsüchten und Idealen gestalten kann. Juden gibt es schon sehr lange, fast viertausend Jahre, seit Abraham seine Reise begann. In dieser Zeit haben sie in allen Ländern der Welt gelebt, unter guten und schlechten Bedingungen, in Freiheit und Verfolgung. Aber in all dieser Zeit gab es nur einen Ort, an dem sie die Mehrheit bildeten und ihre Souveränität ausübten: das Land Israel, ein winziges Land mit schwierigem Gelände und viel zu wenig Regen, umgeben von Feinden und Imperien.

Den Traum von der Rückkehr haben die Juden nie aufgegeben. Wo immer sie waren, beteten sie über Israel und nach Israel gewandt. Das jüdische Volk war immer der Umfang eines Kreises, in dessen Mitte das Heilige Land und Jerusalem, die Heilige Stadt, lagen. In den langen Jahrhunderten des Exils lebten sie zwischen Erinnerung und Hoffnung, getragen von der Verheißung, dass Gott sie eines Tages zurückbringen würde.

Nur in Israel ist die Erfüllung der Gebote gesellschaftsbildend und prägt die Konturen einer Kultur als Ganzes. Nur in Israel können wir die Gebote in einem Land, einer Landschaft und einer Sprache erfüllen, die von jüdischen Erinnerungen und Hoffnungen durchdrungen sind. Nur in Israel folgt der Kalender dem Rhythmus des jüdischen Jahres. In Israel ist das Judentum Teil des öffentlichen Raumes, nicht nur des privaten, abgeschotteten Raumes der Synagoge, der Schule und des Hauses.

Die Juden brauchen ein Land, weil sie ein Volk sind, das die Aufgabe hat, die göttliche Gegenwart auf die Erde zu bringen, in die gemeinsamen Räume unseres Zusammenlebens, nicht zuletzt – wie das letzte Kapitel von Acharej Mot deutlich macht – durch die Art und Weise, wie wir unsere intimsten Beziehungen leben, eine Gesellschaft, in der die Ehe heilig und die sexuelle Treue die Norm ist.

Diese Botschaft, dass Juden ein Land brauchen, um ihre Gesellschaft aufzubauen und dem göttlichen Plan zu folgen, ist eine Botschaft für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen. Für Christen und Muslime: Wenn ihr an den Gott Abrahams glaubt, dann gebt den Kindern Abrahams das Recht auf das Land, das der Gott, an den ihr glaubt, ihnen verheißen hat und in das Er sie nach dem Exil zurückkehren lassen will.

Für die Juden lautet die Botschaft: „Dieses Recht geht einher mit der Pflicht, individuell und kollektiv nach den Maßstäben der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, der Treue und Großzügigkeit, der Liebe zum Nächsten wie zum Fremden zu leben, die allein unsere Aufgabe und Bestimmung ausmachen: ein heiliges Volk im Heiligen Land.

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier