Mai ‍‍2009 - תשסט / תשע

Vor dem Altar sind alle gleich

Warum Reiche für die öffentlichen Opfer im Tempel nur genauso viel spenden durften wie Arme

In der Natur des Menschen steckt die Eigenschaft, auffallen und sich von den Menschen seiner Umgebung absondern zu wollen. Zwar ist der Mensch ein soziales Wesen, aber wenn er anfängt, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, beginnt er, seinen Stand durch verschiedene Techniken zu prüfen, indem er seinen Platz mit den anderen vergleicht. Dabei beginnt jedes Gesellschaftsmitglied, die Aufmerksamkeit der anderen mit seinen persönlichen Eigenschaften auf sich zu ziehen, um seine Besonderheit darzustellen. Was ist dann richtig? Streben wir danach, eine Gruppe von besseren Menschen zu schaffen, eine Art Betrieb, in dem alle Geschäftsführer sind? Oder gibt es eine andere, bessere Möglichkeit, eine Gesellschaft zu gestalten?

„Am ersten Adar werden die Schkalim aufgerufen“ (Mischna, Schkalim 1,1). Als der Tempel noch existierte, sollte am ersten Tag des Monats Adar jeder Mann aus dem Volk Israel eine Spende in Höhe eines halben Schekels an die Tempelkasse spenden.

Heutzutage, nach der Zerstörung des Tempels, gibt es die Tradition, diesen Toraabschnitt am Schabbat vor Rosch Chodesch Adar zu lesen und einen halben Schekel zu spenden. Weil dieses Jahr ein Schaltjahr ist, wird der Abschnitt zu Beginn des Monats Adar II gelesen. Im Tempel gab es zwei Arten von Opfern. Die erste Art war das Opfer, das von Privatleuten als Spende oder als Danksagung, als Vergebung gebracht wurde.

Die andere Sorte waren Opfer, die täglich und am Schabbat und den Feiertagen gebracht wurden. Es waren Opfer, an denen das ganze Publikum beteiligt war. Unter diese Kategorie fallen das tägliche Opfer und die zusätzlichen Opfer.

Das bedeutet, dass durch Geld, das jährlich vor dem Pessachfest gesammelt wurde, im Laufe des Jahres Vieh gekauft wurde, um die Publikumsopfer zu finanzieren. Interessant war, dass die Tora von jedem Juden forderte, lediglich einen halben und nicht einen ganzen Schekel zu spenden.

Zusätzlich definierte die Tora ungewöhnlich streng die Beträge, die für die Einhaltung dieses Gebotes gebracht werden dürfen. Und deshalb steht da: „Der Reiche soll nicht mehr geben und der Arme nicht weniger als den halben Silberling.“ Der Reiche und der Arme werden genau gleich behandelt bei der Praktizierung dieses Gebotes.

Diese Forderung ist sehr hart für die Menschen. Denn normalerweise spenden Reiche viel für einen guten Zweck, entweder weil sie großzügig sind oder weil sie von der Öffentlichkeit gelobt werden wollen. Aber hier wird so ein Verhalten nicht positiv geschätzt, sondern der Reiche und der Arme werden gleich behandelt.

Alle sozialen Schichten müssen sich trotz ihrer Unterschiede gegenseitig respektieren, um eine gesunde Gesellschaft zu gestalten. Der Mensch schreckt oft vor anderen zurück, oder er denkt, dass nur mit ihm allein die Gesellschaft vorankommen kann. Bis sich eines Tages das Rad dreht und derjenige, der bisher nutzlos erschien, nun nutzvoller als die anderen wird.

Eine gesunde Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der jeder eine Bedeutung hat und in der die Gesellschaft nur durch Zusammenarbeit und gegenseitigen Respekt weiterkommen kann. Jeder von uns muss lernen, den anderen samt seinem Anderssein zu akzeptieren. Deshalb wird von allen lediglich ein halber Schekel gespendet. Das ist eine Metapher: Ich alleine gelte als ein halber Schekel, und nur mit der Unterstützung des anderen werde ich Gänzlichkeit schaffen.

Die Einheit hält uns zusammen. Wir sind kein Volk, das aus unterschiedlichen Einzelmitgliedern zusammengestellt wird und in dem die Verbindung zwischen den einzelnen Mitgliedern reiner Zufall ist. Wir sind ein Volk, das sich gegenseitig hilft, um eine Einheit zu schaffen, die uns als ein Ganzes vorwärtsführen soll. Diese Geschichte scheint für jede Zeit zu passen.

Immer wieder verhindern Streit und Hass unsere Einheit und schwächen uns von innen und außen.

Warum wurde festgelegt, dass dieser Abschnitt gerade vor dem Anfang des Monats Adar vorgelesen wird? Im Buch Esther lesen wir von Hamans Absicht, alle Juden umzubringen. Doch Esther, König Ahaschveroschs Frau, war – zufällig oder nicht – Jüdin. Es ist nicht klar, ob Esther tatsächlich das Volk Israel retten konnte.

Eigentlich können wir einen Dialog zwischen Esther und Mordechai beobachten, in dem sie sagt, sie habe kein Recht, den König anzusprechen, außer wenn sie von ihm zu einem offiziellen Besuch eingeladen werde. Andernfalls riskiere sie ihr Leben. In welcher Phase der Geschichte nehmen die Dinge schließlich ihre Wendung? Esther lässt Mordechai ausrichten, dass sie sich vorbereiten müsse, wenn sie vor den König treten soll:

„So gehe hin und versammle alle Juden, die zu Susan vorhanden sind, und fastet für mich, dass ihr nicht esset und trinket drei Tage lang, weder Tag noch Nacht; ich und meine Dienerinnen wollen auch also fasten.“ Das bedeutet, nur wenn sie Verstärkung durch die Einheit der Juden erhält, wird sie dem König gegenübertreten können. Nur vereint können schwierige Situationen  bewältigt werden. Deshalb sagen die Weisen, dass wir mit dem Beginn des Monats Adar unsere Einheit stärken müssen. Denn nur durch das Zusammenrücken aller kann jedes Individuum sich verbessern und dadurch das ganze Volk stärken.  

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund.