Jan ‍‍2013 - תשעג / תשעד

Ständig neu

Warum die Heiligung des Neumonds für das Judentum so wichtig ist
Wieso beginnt die Tora eigentlich mit der Erschaffung der Welt? Hätte sie nicht besser mit der Heiligung des Neumonds beginnen sollen? Mit dieser erstaunlichen Frage eröffnet Raschi (1040–1105) seinen Kommentar zur gesamten Tora.

Überraschend fällt auch seine Antwort auf diese Frage aus, welche dort nachzulesen ist. Doch schon die Frage selbst ist in vielerlei Hinsicht höchst verwunderlich, insbesondere durch den Umstand, dass die Heiligung des Neumonds erst diese Woche in unserer Parascha erwähnt wird (2. Buch Mose 12, 1–2), also mitten im zweiten Buch der Tora. Raschis Frage impliziert, dass das gesamte erste Buch der Tora und ein Teil des zweiten Buches überflüssig sein könnten! Außerdem erfordert es eine gesonderte Erklärung, weshalb die Tora ausgerechnet mit der Heiligung des Neumonds beginnen soll.

Mehrere Gründe können hierfür angeführt werden: Zum einen ist die Heiligung des Neumonds das erste Gebot, das dem jüdischen Volk noch in seiner Volkwerdung in Ägypten von G’tt aufgetragen wird. Sie ist der Auftakt zu den Geboten, die dem gesamten Volk gegeben wurden (zu unterscheiden von den wenigen Geboten davor, wie zum Beispiel die Beschneidung oder das Verbot, von der Hüftsehne zu essen, welche den Vorvätern als Individuen geboten wurden).

GEBOTE Der bedeutende Stellenwert der Mizwot in der Tora ist schon allein dadurch unübersehbar, dass es sich um 613 Ge- und Verbote handelt. Doch geht ihre wahre Bedeutung fürs Judentum weit darüber hinaus! Im Buch Mischle (Sprüche) lesen wir: »Denn das Gebot ist die Leuchte und die Tora das Licht« (6,23). Die Gebote sind der Behälter, die Lampe, für das Licht der Tora!
Die Tora bringt uns die Worte G’ttes wie ein Licht aus einer übernatürlichen Dimension – der g’ttlichen – in diese Welt. Um sich jedoch hier manifestieren zu können und auszudrücken, ist dieses Licht auf einen Behälter angewiesen, in dem es festgehalten werden kann. Ideologie und Tat werden im Judentum in einem Begriff vereinigt: »Gebot«. Die Gebote enthalten die g’ttlichen Ideen und Gedanken der Tora und setzen sie in die Tat um.

In seiner Grunddefinition ist das Judentum eine Religion des Tuns, des Praktizierens, viel mehr als eine Religion des Glaubens und des Bekenntnisses, weswegen auch die Schlüsselworte des Auftakts der Offenbarung G’ttes am Berg Sinai – eigentlich die Stunde Null der jüdischen Religion – mit den erhabenen Worten des israelitischen Volkes begann: »Wir wollen tun, und wir wollen hören!« (2. Buch Mose 24, 7). Die Tora gründet auf den Geboten und baut auf ihnen auf. Daraus wird verständlich, warum sie mit dem ersten Gebot, das an das Volk gerichtet war, hätte beginnen sollen.

VOLKWERDUNG Zum anderen lässt sich auch im Inhalt des Gebotes, den Neumond zu heiligen, eine Begründung erkennen, weshalb ihm der erste Abschnitt der Tora zuzusprechen wäre: »Dieser Monat sei euch das Haupt der Monate, er sei euch der erste der Monate des Jahres« (2. Buch Mose 12,2).
Gemeint ist der Monat Nissan, der erste Monat des Jahres in der Tora. Zugleich ist er der Monat der Volkwerdung, der formalen Entstehung des jüdischen Volkes mit dem Auszug aus Ägypten. Die Schöpfung des Menschen fand im Monat Tischri statt (Babylonischer Talmud, Rosch Haschana 10b), diejenige des jüdischen Volkes im Nissan.

Die Erschaffung der Welt findet ihre ständige Bestätigung durch die Erwähnung der Wochentage, die sich nach den sieben Tagen der Schöpfung richten (im Hebräischen werden die Wochentage bis heute nicht mit eigenen Namen versehen, sondern durchnummeriert). Desgleichen wird die Entstehung des jüdischen Volkes anhand der Erwähnung der jüdischen Monate bezeugt, denn ihre Zählung richtet sich nach dem Monat Nissan, dem ersten Monat des Jahres gemäß dem Auszug aus Ägypten. Auch hier finden wir in der Tora keine Namen für die Monate, sondern lediglich eine Durchnummerierung: Der Monat Tischri ist zum Beispiel »der siebte Monat«.

LEBENSKRAFT Darüber hinaus sagt das Gebot, den Neumond zu heiligen, noch viel mehr aus. Schon immer beschäftigte die Philosophen die Frage: Kennt unsere Welt Erneuerung, was auf eine Schöpfung, die diese Erneuerung in Gang gesetzt hat, auf einen Anfang und ein Ziel schließen lässt? Oder ist sie einer unveränderlichen, sich ewig wiederholenden Stetigkeit ausgesetzt, was die Theorie einer schon immer dagewesenen Erde bekräftigen würde?

Die Heiligung des Neumonds ist die jüdische Antwort auf diese Frage: Es gibt Erneuerung in dieser Welt, Erneuerung, die der Welt stets Lebenskraft zuführt (»Herr der Wunder, Der in Seiner Güte jeden Tag stets das Schöpfungswerk erneuert« – aus dem Morgengebet) und ihr eine Richtung, einen zielgerichteten Verlauf gibt.

Eine Entwicklung ist im Gange, angetrieben von neuen Einsichten und der Erneuerung des menschlichen Individuums sowie durch das Weiterkommen der menschlichen Gesamtheit, zum Beispiel im sittlichen oder gesetzlichen Bereich. Diese Entwicklung steuert, vielleicht auf Umwegen, aber nichtsdestoweniger unaufhörlich, in Richtung Erlösung.

Der Mond und dessen stete Erneuerung stehen symbolisch für das jüdische Volk: Es ist die innere, sich stets erneuernde Kraft, die es dem jüdischen Volk ermöglichte, Jahrtausende des Exils und der Verfolgung zu überstehen. Denn entgegen allgemeiner historischer Erfahrung ging das jüdische Volk, nachdem es, etwa unter den Königen David und Salomon, in seinem Zenit stand, nicht unter wie so manches andere Reich, sondern raffte sich nach jedem Niedergang immer wieder auf, stärkte sich an der Quelle des Lebens, an der Tora, und erneuerte seine Kräfte – so wie der Mond sich stets erneuert.