Mrz ‍‍2015 - תשעה / תשעו

ERSATZ

ERSATZ
Danken und Bitten
Nach der Zerstörung des Tempels sind Gebete an die Stelle der Opfergaben getreten
Der Wochenabschnitt heißt wie das dritte Buch der ToraWajikra. Wir befinden uns in etwa in der Mitte der Tora. Das Buch Wajikra erzählt von Opfergaben und vom Dienst im Beit HaMikdasch, dem Tempel, von dem wir die Westmauer, die weltbekannte Klagemauer, noch heute sehen, anfassen und an ihr beten können.

Opfergaben sind ein heikles Thema. Viele denken dabei an etwas Barbarisches, an Ströme von Blut und unbeschreiblichen Schmerz. Die armen Tiere, wie konnte man in einem heiligen Tempel so etwas tun? Welchen Sinn hat das?

Dabei opfern wir selbst, täglich, stündlich. Wir opfern einen Freund für den anderen, die Karriere für die Familie, die Familie für die Karriere. Wie viele Biografien erzählen davon, wie Menschen sich für etwas aufgeopfert haben! Und noch ein Beispiel für heutiges Opfern: Stellen Sie sich vor, Sie erwarten Gäste oder sehr gute Freunde.

Sie bereiten ein Dinner vor, vier Gänge – selbstverständlich mit Fleischgericht im Hauptgang –, oder Sie grillen zusammen, natürlich Fleisch, versteht sich. Was sich hier von der Opferung im Tempel unterscheidet, ist die Frage, für wen man opfert. In unseren Beispielen opfert man für andere Menschen. Im Tempel opferte man für den Schöpfer der Welt. Das Fleisch bekamen die Kohanim, die Priester, und ihre Familien.

Seit dem Jahr 951 vor der Zeitrechnung war der von König Salomon erbaute Beit HaMikdasch der Mittelpunkt des geistigen Lebens des jüdischen Volkes. Man sagt, dass jeder, der den Tempel betreten hat, sofort der Existenz Gottes sicher war. Seit der Tempelzerstörung gibt es einen solchen Ort nicht mehr.

OPFERARTEN Im Beit HaMikdasch wurden nicht nur Opfer des Volkes, sondern auch persönliche Gaben dargebracht, als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer. Der Tempeldienst wird traditionell Awoda genannt. Im Folgenden ein kleiner Überblick über die Opferarten: Ola (Aufstiegs-, Ganz- oder Brandopfer), Mincha (Speise- oder Getreideopfer), Sebach Schlamim (Heils-, Mahl- oder Friedensopfer), Chatat (Sünd-, Verfehlungs- oder Reinigungsopfer) und Ascham (Schuldopfer).

Heute haben wir die Tefila, das Gebet, als Ersatz für die Opfergaben. Wir »opfern« unsere Zeit für den Schöpfer der Welt – aus Dankbarkeit, Pflichtgefühl und aus dem Bedürfnis heraus, Ihm näherzukommen und ein sinnerfülltes Leben zu führen. An den Hohen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur erreichen die Gebete eine besondere Stufe der Intensität und haben auch eine besondere Bedeutung und Auswirkung.

An einem gewöhnlichen Tag in der Zeit des Tempels gab es drei Opferdienste. Dementsprechend haben wir drei tägliche Gebete: Schacharit, Mincha und Maariv. Was sind Gebete? Wofür betet man? Interessanterweise wird auf diese Frage meist geantwortet, man bittet um Persönliches, das man gerade braucht: Gesundheit, Arbeit oder die Erfüllung besonderer Wünsche.

Da steht also der Mensch, schlägt sich an die Brust und denkt ganz naiv, dass ein allmächtiges Etwas über ihm ist, seine Probleme und Klagen hört und entscheidet, ob es helfen oder nicht helfen soll. Und diese Entscheidung hängt von der Konzentration während des Gebets, von der Ehrlichkeit der Absichten, vom Glauben an das Sein des Allmächtigen und seiner Hilfe ab. Je intensiver man also fragt, umso schneller bekommt man, was man möchte.

SCHMA JISRAEL Doch ganz so funktioniert es leider nicht. Alle Vorstellungen über Konzentration, Ehrlichkeit und das Bewusstsein, vor wem man steht, stimmen. Aber die Art und Weise des Bittens – schlagen Sie den Siddur auf – ist eine ganz andere, eine unpersönliche. Nicht für sich betet ein Jude, sondern für die Gesundheit und Parnassa, für den Frieden und das Wohl des ganzen jüdischen Volkes.

Beim Schma Jisrael, das wir morgens und abends sagen, handelt es sich um den ultimativen Ausdruck jüdischen Selbstverständnisses. Dieses Gebet wird schon ganz kleinen Kindern beigebracht. Wir rezitieren es in Momenten höchster Gefahr. Millionen jüdischer Menschen sprachen es in den beiden Jahrtausenden nach der Tempelzerstörung in den letzten Augenblicken ihres Lebens: in der Zeit der Kreuzzüge, der Inquisition, der Pogrome und des Holocaust. Dieses Gebet entmachtete die Peiniger und Mörder, denn es besagt, dass es nur Einen gibt, der im Gegensatz zu jedem Sterblichen die wahre Macht besitzt und der wahre Richter ist.

AMIDA Bald nach dem Schma findet sich im Siddur das Hauptgebet, das den Opferungen entsprechend dreimal täglich gesagt wird: Schmone Esre – das Achtzehngebet, die Amida –, das im Stehen und in allerhöchster Konzentration gesagt wird. Eine antike Handschrift mit dem Text der Amida wurde Ende des 19. Jahrhunderts in der Kairoer Geniza gefunden.

Die Amida besteht aus einem Anfangsteil mit drei Brachot: Awot (die Väterverdienste), Gwurot (die Machtzuweisungen), und Keduschat HaSchem (die Heiligung Gottes). Im Hauptteil, der sich auf Angelegenheiten des Alltags bezieht, finden wir Bitten für ein jüdisches Leben, für Gesundheit und Wohlergehen. In den letzten drei Brachot sehen wir einen Verweis auf die Awoda, den Opferdienst im Beit HaMikdasch, Hodaa ist der Dank, und schließlich Birkat Schalom, der Priestersegen und die Bitte um Frieden in den höheren Welten, bei uns und für ganz Klal Israel, das jüdische Volk.

In der Amida betonen wir also die absolute Macht des Ewigen, der diese Welt erschaffen hat und in ihr für jeden von uns permanent präsent ist, der uns ernährt, rettet, heilt und sich um uns kümmert. Natürlich ergibt es sich sogar direkt aus dem Gesagten, dass Gott jetzt keine Tieropfer für sich erbringen lässt. Damit wurde den Juden zugemutet, auch ohne materielle Opfer Gott zu dienen, mit ihren Gebeten, die diese Welt aufrechterhalten, beeinflussen und bewegen.

Der zentrale Gedanke ist jedoch, dass, auch wenn man sicherlich für das eigene Wohlergehen und das der Familie, der Eltern und Kinder bittet, jeder Jude für das ganze Volk Israel und für die ganze Welt betet. Und nicht nur aus der Perspektive eines Individuums, sondern aus der Perspektive des ganzen Volkes.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 22.03.2012