Dez ‍‍2009 - תשסט / תשע

Auf sich gestellt

STÄRKE Jeder Mensch kann viel erreichen – ganz unabhängig von seiner Umgebung

Eines der Hauptthemen unserer Parascha ist Jakows Flucht vor seinem Bruder Esaw. Die Tora erzählt, wie Jakow seine Frauen und Kinder ans andere Flussufer brachte, er selbst aber allein (lewado) auf der anderen Seite zurückblieb. Die Gemara im Traktat Chulin sagt, dass Jakow dort geblieben ist, um ein paar kleine Flaschen zu holen.

Unsere Weisen sagen darüber: Aus der Tatsache, dass Jakow bereit war, sich für solche »Kleinigkeiten« in Gefahr zu bringen, können wir sehen, dass gerechten Menschen ihre Besitztümer teurer als ihr eigener Körper sind. Rabbi Itzchack Luria (1534-1572) begründet dies so: Ein Gerechter versteht, dass alles, was ihm von G’tt gegeben wurde, einen bestimmten Zweck erfüllt, sonst hätte er es nicht bekommen. Und deswegen ist es wichtig für ihn, es zu behalten. Aus diesem Grund ist ein Gerechter bereit, alles in seiner Kraft Liegende zu tun, um seine Besitztümer nicht zu verlieren.

Dieses Verständnis kann uns helfen, unsere Besitztümer stärker zu wertschätzen. Wenn wir uns bewusst werden, dass alles, was wir haben, uns von G’tt gegeben wurde und einen bestimmten und einzigartigen Zweck erfüllt, werden wir lernen, unsere Besitztümer mehr zu schätzen.

Nachahmen

Es gibt aber noch einen weiteren interessanten Kommentar zu diesem Vers. Der Midrasch in Bereschit Rabba sagt, dass genauso wie G’tt allein (lewado) ist, auch Jakow auf der anderen Seite des Flusses allein (lewado) blieb. Wir sehen, dass unsere Weisen das Wort »allein« als positives Attribut und als eine Form, G’tt nachzuahmen, verstanden haben. Die Eigenschaft, allein zu bleiben, hat Jakow von seinem Großvater Awraham geerbt, der bereit war, ganz allein für seine geistigen Werte zu stehen. Diese Eigenschaft, sagen unsere Weisen, war genau das, was Jakow half, in seinem bevorstehenden Kampf die Oberhand zu bekommen.

In diesem Licht, sagt Rav Jeruchem Levovotsch, können wir viel besser die Mischna in Pirkej Avot verstehen, die für uns vier Begriffe, die in unserem Sprachumgang sehr geläufig sind, neu definiert. Die Mischna fragt: »Wer ist weise?« Und antwortet: »Der von jedem lernt.« »Wer ist stark?« – »Der in der Lage ist, seine Triebe oder seine negativen Charaktereigenschaften zu beherrschen.« »Wer ist reich? – »Der zufrieden ist mit dem, was er hat.« »Wer ist ehrenswert?« – »Der die anderen Menschen ehrt.«

UNABHÄNGIG

Diese Mischna lehrt uns etwas sehr Wichtiges: Nämlich, dass jede Person sehr viel erreichen kann, unabhängig von der Umgebung. Eine weise Person ist jemand, der die Weisheit liebt und ein ständiges Verlangen nach ihr hat und deswegen bereit ist, von allen, die ihm begegnen, zu lernen. Wenn das Starksein davon abhängig wäre, alle anderen zu übertreffen, dann wäre niemand mehr stark, sobald es jemanden gäbe, der stärker ist als er. Doch die Mischna sagt, dass die wahre Stärke das Überwinden der eigenen negativen Triebe ist und sie nur von einem selbst abhängt, von keinem anderen. Der wahre Reichtum wird nicht daran gemessen, wie viel Geld oder Besitztümer man hat. Wenn es wirklich so wäre, könnte man seinen ganzen Reichtum über Nacht verlieren. Außerdem wird es immer jemanden geben, der mehr besitzt als man selbst. Reich zu sein, bedeutet, Freude an dem zu empfinden, was man hat, und es zu schätzen. Dieses ist jedem Einzelnen selbst überlassen und von äußeren Faktoren völlig unabhängig.

Wenn die eigene Würde von der Umgebung abhinge, wie könnte man dann seine Würde behalten, wenn andere einem keinen Respekt erweisen? Die Würde des Menschen darf niemals von seiner Umgebung abhängen. Nur jemand, der die Würde anderer respektiert und ihnen die nötige Ehre erweist, ist eine ehrenwerte Person, egal wie die anderen ihn behandeln. Diese Eigenschaften sind von jedem Einzelnen allein (lewado) abhängig, und die Außenwelt darf darauf keinen Einfluss haben. Jeder Einzelne entscheidet für sich selbst, wo er stehen will. So sagt auch der Talmud, dass der Mensch einen Ort schafft und nicht umgekehrt.

GEFAHR

Die Weisen weisen uns aber auch auf eine Gefahr hin, wenn man allein (lewado) bleibt. Wir lesen in unserem Wochenabschnitt, dass Jakow, als er allein blieb, sofort angegriffen wurde. Der Vers, der nach dem Vers über Jakows Alleinbleiben steht, sagt uns, dass er mit jemandem kämpfte. Die Kommentatoren meinen, dass Jakow mit dem bösen Trieb gekämpft hat. Daraus lernt man: Wer allein bleibt und ohne eine Gemeinschaft ist, gibt dem bösen Trieb eine bessere Möglichkeit zum Angreifen. Denn die Gemeinschaft und die Familie verleihen einen zusätzlichen Schutz. Man darf sich also nur in bestimmten Fällen von seiner Gemeinschaft trennen, und dann sollte man immer zu einem Kampf bereit sein.

Jakow hat seinen Kampf gewonnen. Jeder von uns führt seine eigenen Schlachten, doch eines dürfen wir niemals vergessen: Der Ausgang des Kampfes ist allein (lewado) von uns abhängig.

Der Autor ist Assistenzrabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.