Apr ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Zurückhaltend oder ungestüm

Es hätte ein Tag der Freude sein sollen. Die Israeliten hatten den Bau des Mischkan, des Heiligtums, vollendet. Sieben Tage lang hatte Moses Vorbereitungen für seine Weihe getroffen.1 Jetzt, am achten Tag – dem ersten des Monats Nissan (Ex 10: 2), auf den Tag genau ein Jahr nachdem die Israeliten ihr erstes Gebot zwei Wochen vor dem Exodus erhalten hatten – sollte der Dienst im Heiligtum zum ersten Mal vollzogen werden. Unsere Weisen sagen, dass es im Himmel der freudigste Tag seit der Schöpfung war (Megilla 10b).
Und da ereignete sich die Tragödie. Die beiden älteren Söhne Aarons „brachten ein fremdes Feuer, das ihnen nicht befohlen worden war“ (Lev. 10:1). Und das Feuer vom Himmel, das die Opfer hätte verzehren sollen, verzehrte sie ebenfalls, sie starben. Aarons Freude schlug in Trauer um. Wajidom Aharon: „Und Aaron schwieg“ (ibid. 10:3). Der Mann, der Moses’ Sprecher gewesen war, konnte nicht mehr sprechen. Die Worte wurden in seinem Mund zu Asche.
Es gibt vieles in dieser Begebenheit, das schwer zu verstehen ist, vieles, was mit dem Begriff der Heiligkeit und den darin freigesetzten mächtigen Energien verbunden ist, welche wie die Atomkraft heute lebensgefährlich sein können, wenn sie nicht richtig eingesetzt werden. Darüber hinaus gibt es aber auch eine zutiefst menschliche, bis heute aktuelle Seite der Geschichte, die von zwei verschiedenen Führungsansätzen handelt.
1 Wie in Exodus 40 beschrieben.
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Zuerst die Sache mit Aaron. Wir lesen, wie Moses ihn aufrief, seine Aufgabe als Hohepriester zu beginnen: „Da sprach Moses zu Aaron: ‚Trete an den Altar heran und bereite dein Sünd- und Brandopfer vor und sühne für dich und das Volk. Bereite dann das Opfer des Volkes vor, um für sie zu büßen, wie Gott es geboten hat‘“ (Lev. 9:7).
Unsere Weisen fanden eine Nuance in den Worten „Trete an den Altar“, als stünde Aaron in einiger Entfernung und zögerte, näher zu kommen. Sie sagten: „Anfangs schämte sich Aaron, näher zu kommen. Moses sprach zu ihm: ‚Schäme dich nicht, dazu wurdest du auserwählt.‘“2
Warum schämte sich Aaron? Unsere Überlieferung hat zwei Erklärungen, die beide von Nachmanides in seinem Kommentar zur Tora zitiert werden. Die erste ist, dass Aaron einfach von der Furcht, der göttlichen Gegenwart so nahe zu kommen, überwältigt war. Die zweite Erklärung ist, dass Aaron, als er die „Hörner“ des Altars sah, an das Goldene Kalb erinnert wurde, seine große Sünde. Wie konnte er, der doch eine Schlüsselrolle bei diesem schrecklichen Ereignis gespielt hatte, jetzt die Rolle des Sühnens für die Sünden des Volkes übernehmen? Zweifelsohne verlangte dies eine Unschuld, die er nicht mehr hatte. Moses musste ihn daran erinnern, dass der Altar genau für diesen Zweck gemacht worden war: für Sünden zu büßen. Die Tatsache, dass Gott ihn zum Hohepriester erwählt hatte, war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ihm vergeben worden war.
Möglicherweise gibt es eine dritte, wenn auch weniger spirituelle Erklärung. Bis jetzt hatte Aaron in jeder Hinsicht hinter Moses die zweite Geige gespielt. Gewiss war er die ganze Zeit an seiner Seite gewesen und hatte ihm geholfen zu sprechen und zu führen. Es gibt jedoch einen großen psychologischen Unterschied zwischen der Rolle eines Stellvertreters und der eines eigenständigen Führers. Wir kennen wahrscheinlich alle Beispiele von Menschen, die bereitwillig als Assistent tätig sind, aber Angst davor haben, selbstständig zu führen.
Welcher Erklärung wir auch immer folgen, Aaron war bei der Übernahme seiner neuen Rolle eher zurückhaltend, und Moses musste ihm Selbstvertrauen zusprechen: „Dafür wurdest du auserwählt.“
Das andere Ereignis ist die Tragödie, die sich mit Aarons zwei Söhnen, Nadaw und Awihu, ereignete, die „ein fremdes Feuer, das nicht befohlen worden war, dargebracht hatten“. Die Weisen gaben für diesen Vorfall mehrere Erklärungen. Sie alle beruhen auf einer genauen Lesart der verschiedenen Passagen in der Tora, die auf den Tod der Brüder Bezug nehmen. Einige besagen, dass sie Alkohol getrunken hätten.3 Andere meinen, sie seien hochmütig gewesen und fühlten sich dem Volk überlegen. Dies sei der Grund, warum sie nie geheiratet hatten.4
Einige sagen, dass sie eine halachische Entscheidung über die Verwendung eines von Menschenhand geschaffenen Feuers getroffen hatten, anstatt ihren Lehrer Moses zu fragen, ob dies erlaubt sei (Eruwin 63a). Andere sagen, sie seien in Gegenwart von Moses und Aaron ungeduldig gewesen (Sanhedrin 52a). So sagten sie: „Wann werden diese beiden alten Männer sterben und wir die Führung der Gemeinde übernehmen?“
Wie auch immer wir die Episode lesen, es scheint klar zu sein, dass sie nur allzu bereit waren, die Führung zu übernehmen. Von ihrer Begeisterung, an der Einweihung teilzunehmen, mitgerissen, taten sie etwas, was ihnen nicht befohlen worden war. Hatte nicht auch Moses etwas aus eigener
2 Raschi zu Lev. 9:7 unter Berufung auf Sifra.
3 Wajikra Raba 12: 1; Ramban zu Lev. 10: 9.
4 Wajikra Raba 20:10.
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Initiative getan? Hatte er nicht die Tafeln zerbrochen, als er vom Berg Sinai herunterkam und das Goldene Kalb sah? Wenn er spontan handeln konnte, warum nicht auch sie?
Sie verkannten den Unterschied zwischen einem Priester und einem Propheten. Wie wir in einer früheren Ausgabe von Covenant & Conversations gesehen haben, lebt und handelt ein Prophet im Kontext der Zeit – in diesem Moment, einzigartig und unwiderruflich anders als jeder andere. Ein Priester jedoch handelt und lebt in der Zeitlosigkeit, indem er eine Reihe von unabänderlichen Regeln befolgt. Alles im Heiligtum, dem Reich des Priesters, ist wie in einem Drehbuch im Voraus genau beschrieben. Es ist der Ort, an dem Gott entscheidet, nicht der Mensch.
Nadaw und Awihu haben nicht vollständig begriffen, dass es verschiedene Arten von Führung gibt und diese nicht austauschbar sind. Was für den einen angemessen ist, kann für einen anderen radikal unpassend sein. Ein Richter ist kein Politiker, ein König kein Premierminister. Ein religiöser Führer ist keine nach Popularität strebende prominente Persönlichkeit. Werden diese Rollen verwirrt, führt dies nicht nur zum Scheitern, sondern zur Beschädigung des Amtes selbst.
Der eigentliche Kontrast hier ist jedoch der Unterschied zwischen Aaron und seinen beiden Söhnen. Sie waren, wie es scheint, Gegensätze. Aaron war übervorsichtig und musste von Moses dazu überredet werden, seine Aufgabe überhaupt anzunehmen. Nadaw und Awihu waren nicht vorsichtig genug. So sehr waren sie daran interessiert, der Rolle des Priestertums ihren eigenen Stempel aufzudrücken, dass ihnen ihr Ungestüm zum Verhängnis wurde.
Dies sind die beiden Herausforderungen, die Führungskräfte immer wieder zu bewältigen haben: Zunächst die Zurückhaltung oder das Widerstreben, eine Führungsrolle zu übernehmen. Warum ich? Weshalb sollte ich mich engagieren? Warum sollte ich die Verantwortung übernehmen und alles annehmen, was damit verbunden ist: den hohen Stress, das schiere Arbeitsvolumen und die unendlichen Kritikpunkte, denen sich Führungskräfte immer wieder zu stellen haben? Abgesehen davon gibt es andere Leute, die viel besser qualifiziert und geeigneter sind als ich.
Selbst die größten Persönlichkeiten zögerten, andere zu führen. Moses fand beim brennenden Busch einen Grund nach dem anderem, um zu zeigen, dass er nicht der Mann für den Job war. Jesaja und Jeremia fühlten sich beide nur unzureichend qualifiziert. Jonah wurde zur Führung berufen und begab sich auf die Flucht. Die Herausforderung kann einem tatsächlich Angst machen. Wenn man jedoch das Gefühl hat, zu einer Aufgabe berufen zu sein, wenn man weiß, dass diese Mission notwendig und wichtig ist, kann man nichts anderes tun, als Hinejni zu sagen: „Hier bin ich.“ (Ex. 3:4) Oder mit den Worten eines berühmten Buchtitels: die Angst spüren und es trotzdem tun.5
Die andere Herausforderung liegt am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Da gibt es Menschen, die sich als rechtmäßige Führer sehen. Sie sind überzeugt, dass sie es besser können als alle anderen. Wir erinnern uns an die berühmte Bemerkung von Israels erstem Präsidenten, Chaim Weizmann, dass er Staatsoberhaupt einer Nation von einer Million Präsidenten war.
Aus der Ferne mag es so einfach erscheinen. Liegt es nicht auf der Hand, dass der Leiter diesen einen Weg gehen musste, den anderen aber vermeiden sollte? In jedem Auto gibt es viele „Fahrer“ auf dem Rücksitz, die es immer besser wissen als derjenige, der hinterm Steuer sitzt. Gelangen sie in eine Führungsposition, so können sie großen Schaden anrichten. Sie haben nie auf dem Fahrersitz gesessen und wissen nicht, wie viele Überlegungen zu berücksichtigen sind, wie viele Stimmen des Widerspruchs überwunden werden müssen, wie schwierig es gleichzeitig ist, mit dem Druck der Ereignisse umzugehen, ohne die langfristigen Ideale und Ziele aus den Augen zu verlieren. Der
5 Susan Jeffers, Feel the Fear and Do it Anyway, Ballantine Books, 2006. Deutsche Ausgabe: Selbstvertrauen gewinnen: Die Angst vor der Angst verlieren, Kösel-Verlag, 2017.
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verstorbene John F. Kennedy sagte, den schlimmsten Schock nach seiner Wahl zum Präsidenten hätte er erlebt, „als wir im Weißen Haus ankamen und wir feststellten, dass die Dinge tatsächlich so schlecht waren, wie wir es gesagt hatten“. Nichts bereitet einen Menschen auf den Druck der Führung vor, wenn viel auf dem Spiel steht.
Führer, die allzu selbstbewusst und übermäßig begeistert sind, können großen Schaden anrichten. Bevor sie die Verantwortung in einer Führungsposition übernehmen, sehen sie die Dinge aus ihrer eigenen Perspektive. Wofür ihnen jedoch das Verständnis fehlt, ist, dass Führung sich auf viele Perspektiven, viele Interessengruppen und Sichtweisen bezieht. Das bedeutet nicht, dass sie versuchen sollten, es allen recht zu machen. Diejenigen, die dies tun, stellen am Ende niemanden zufrieden. Aber sie müssen sich beraten und überzeugen. Manchmal müssen Präzedenzfälle und Traditionen in einer bestimmten Institution respektiert werden. Ein Führer muss genau wissen, wann er sich wie sein Vorgänger zu verhalten hat und wann nicht. All dies erfordert einen klaren Kopf und überlegtes Urteilsvermögen und keine wilde Begeisterung in der Hitze des Gefechts.
Nadaw und Awihu waren sicherlich großartige Menschen. Das Problem war, dass sie glaubten, große Menschen zu sein. Sie waren nicht wie ihr Vater Aaron, der wegen seines Gefühls der Unzulänglichkeit überredet werden musste, sich dem Altar zu nähern. Das Einzige, was Nadaw und Awihu fehlte, war das Gefühl für ihre eigene Unzulänglichkeit.6
Um etwas Großes zu vollbringen, müssen wir uns dieser beiden Versuchungen bewusst sein. Die eine ist die Angst vor Prominenz: Wer bin ich? Die andere ist, von der eigenen Größe überzeugt zu sein: Wer sind denn schon die anderen? Ich kann es besser. Wir können Großartiges erreichen, wenn (a) die Aufgabe wichtiger ist als die Person, (b) wir bereit sind, unser Bestes zu geben, ohne uns anderen überlegen zu fühlen, und (c) wir bereit sind, Ratschläge anzunehmen. Dies war der Punkt, in welchem Nadaw und Awihu fehlgingen.
Menschen werden keine Führer, weil sie großartig sind. Sie werden groß, weil sie bereit sind, als Führer zu dienen. Es spielt keine Rolle, dass wir uns für unzureichend halten. Moses tat es, Aaron auch. Was zählt, wenn die Herausforderung ruft, ist die Bereitschaft mit Hinejni zu antworten: „Hier bin ich.“