Feb ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Vision und Detail

Vision und Detail
Mischpatim 5781
Im Verlauf der Ereignisse in unserer Parascha gelangen wir zu einem unerwartet verwirrenden Übergang. Bis jetzt hat uns das Buch Schemot mit dem Schwung und dem Drama seiner Erzählung beseelt: die Versklavung der Israeliten, ihre Hoffnung auf Freiheit, die Plagen, die Hartnäckigkeit des Pharao, die Flucht in die Wüste, die Durchquerung des Schilfmeeres, die Wanderung zum Berg Sinai und das große Bündnis mit Gott.
Plötzlich begegnen wir einer ganz anderen Art von Text: einem Gesetzbuch, das eine komplexe Vielfalt von Themen behandelt, von der Haftung für Schäden über den Schutz von Eigentum bis hin zu Gesetzen der Rechtsprechung, dem Schabbat und den Feiertagen. Warum hier? Warum nicht die Geschichte fortsetzen, die zum nächsten großen Drama führt, der Sünde mit dem Goldenen Kalb? Warum den erzählerischen Fluss unterbrechen? Und können wir aus dem Abschnitt eine Lehre über notwendige Führungsqualitäten ableiten?
Die Antwort lautet: Herausragende Führungskräfte, ob CEOs oder einfach nur Eltern, haben die Fähigkeit, eine große Vision mit hochspezifischen Details zu verbinden. Ohne Vision sind die Details nur ermüdende Bürde. Eine bekannte Geschichte von drei Arbeitern, die Steinblöcke schneiden, illustriert dies. Auf die Frage, was sie da tun, sagt der eine: „Steine schneiden.“ Der zweite erwidert: „Meinen Lebensunterhalt verdienen.“ Der dritte jedoch sagt: „Ich baue einen
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Palast.“ Menschen, die eine größere Vision vor Augen haben, empfinden mehr Stolz und arbeiten härter und besser. Große Führungskräfte kommunizieren eine Vision.
Aber sie sind auch sorgfältig, sogar akribisch, wenn es ums Detail geht. Von Thomas Edison stammt der berühmte Ausspruch: „Genie ist ein Prozent Inspiration, neunundneunzig Prozent Schweiß.“ Es ist die Liebe zum Detail, welche die großen Künstler, Dichter, Komponisten, Filmemacher, Politiker und Konzernleiter vom bloßen Durchschnitt abhebt. Wer Walter Isaacsons Biographie über den verstorbenen Steve Jobs gelesen hat, weiß, dass dieser eine an Besessenheit grenzende Liebe zum Detail hatte. Er bestand zum Beispiel darauf, dass alle Apple Geschäfte Glastreppen erhalten sollten. Als ihm mitgeteilt wurde, dass es kein Glas gäbe, das dafür stark genug sei, bestand er darauf, dass es dann eben erfunden werde. Das Patent wurde in seinem Namen registriert.
Das Genie der Tora bestand darin, dieses Prinzip auf die Gesellschaft insgesamt anzuwenden. Die Israeliten hatten eine Reihe wechselhafter Ereignisse durchlebt. Moses war sich dessen bewusst, dass es nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben hatte. Gott hatte ihm auch zu verstehen gegeben, dass nichts davon beiläufig oder zufällig war. Die Israeliten hatten die Sklaverei erlitten, um die Freiheit schätzen zu lernen. Sie hatten gelitten, und so wussten sie, wie die Opfer tyrannischer Macht empfinden. Am Berge Sinai hatte Gott ihnen durch Moses ein Leitbild vermittelt: „Ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk“ zu werden, unter der Herrschaft von Gott allein. Sie sollten eine Gesellschaft schaffen, die auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und des Respekts vor dem Leben beruht.
Aber weder historische Ereignisse noch abstrakte Ideale – selbst nicht die Grundprinzipien der Zehn Gebote – genügen, um eine Gesellschaft auf Dauer aufrechtzuerhalten. Hier setzt das bemerkenswerte Bestreben der Tora an: historische Erfahrungen mit detaillierter Gesetzgebung zu vereinen, auf dass die Israeliten das, was sie gelernt hatten, täglich verinnerlichen und in die Struktur ihres sozialen Lebens einbinden. Im Wochenabschnitt Mischpatim wird die Vision auf das Detail übertragen und die Geschichte mit dem Gesetz verbunden.
So zum Beispiel: „Wenn du einen hebräischen Diener erwirbst, soll er dir sechs Jahre lang dienen. Im siebten Jahr aber soll er frei gelassen werden, ohne etwas zu bezahlen“ (Exod. 21:2-3). In diesem Gesetz verwandelt sich die Sklaverei auf einen Schlag aus einem Geburtsumstand in eine vorübergehende Lebensbedingung. Aus Identität wird zeitweilige Beschäftigung. Die Sklaverei, die bittere Erfahrung der Israeliten in Ägypten, konnte nicht über Nacht abgeschafft werden. Selbst in den Vereinigten Staaten geschah dies offiziell erst in den 1860er Jahren, dem voraus aber ging ein verheerender Bürgerkrieg. Das Gesetz in unserer Parascha steht am Anfang dieser langen Reise.
Ebenso das Gesetz, dass „jeder, der seinen männlichen oder weiblichen Sklaven mit einem Stab schlägt, zu bestrafen ist, wenn der Sklave als direkte Folge stirbt“ (Exod. 21:20). Ein Sklave ist nicht nur Eigentum. Er hat wie alle auch ein Recht auf Leben.
Ebenso das Gesetz über Schabbat, das besagt: „Sechs Tage verrichte deine Arbeit, am siebten Tag aber arbeite nicht, damit dein Ochse und dein Esel ruhen und der in deinem Haushalt geborene Sklave und der bei dir lebende Fremde sich erholen“ (Exod. 23:12). An einem von sieben Tagen sollen Sklaven die Luft der Freiheit atmen. Alle drei Gesetze bereiteten den Weg für die Abschaffung der Sklaverei, auch wenn diese noch über dreitausend Jahre andauern sollte.
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Zwei Gesetze sind mit der Erfahrung der Israeliten als unterdrückte Minderheit verknüpft: „Misshandle oder unterdrücke keinen Fremden, warst du doch ein Fremder in Ägypten“ (Exod. 22:20). Und: „Unterdrücke nicht den Fremden; du selbst weißt doch, wie es ist, fremd zu sein, weil du Fremder in Ägypten warst“ (Exod. 23:9).
Weitere Gesetze beziehen sich auf andere Aspekte der Erfahrung des jüdischen Volkes in Ägypten: „Nutze die Witwe oder die Waisen nicht aus. Solltest du es doch tun und sie zu mir schreien, werde ich ihren Ruf erhören“ (Exod. 22: 21-22). Dies vergegenwärtigt die Episode zu Beginn des Exodus: „Die Israeliten stöhnten ob ihrer Sklaverei und schrien auf, und ihr Hilferuf infolge ihrer Sklaverei stieg zu Gott empor. Gott hörte ihr Stöhnen und erinnerte sich seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. So schaute Gott auf die Israeliten und sorgte sich um sie“ (Exod. 2:23-25).
In einem bekannten Artikel aus den 1980er Jahren schrieb der Rechtsprofessor Robert Cover über „Nomos und Narrativ“.1 Damit bezog er sich auf einen den Gesetzen einer Gesellschaft unterliegenden Nomos, dass heißt die Vision einer idealen Gesellschaftsordnung, auf die das Gesetz ausgerichtet ist. Und hinter jedem Nomos steht eine Erzählung, eine Geschichte, die erklärt, wie die Gestalter und Visionäre dieser Gesellschaft oder Gruppe zu der konkreten Vision der von ihnen angestrebten idealen Ordnung gelangt sind.
Die Beispiele des Yale-Professors stammen größtenteils aus der Tora, und tatsächlich wirkt seine Analyse weniger wie eine Beschreibung des Gesetzes selbst, sondern eher wie die Darstellung dieses einzigartigen Phänomens, das wir als Tora kennen. Das Wort „Tora“ ist unübersetzbar; es beinhaltet verschiedene Konzepte, die nur in dem Buch, das diesen Namen trägt, gemeinsam erscheinen.
Tora bedeutet „Gesetz“. Es bedeutet aber auch „Lehre, Anleitung, Führung“ oder allgemein „Weisung“. Es ist auch der übergreifende Name für die fünf Bücher Moses, von Genesis bis Deuteronomium, die sowohl Erzählungen als auch Gesetze umfassen.
Allgemein sind Recht und Erzählung zwei grundverschiedene literarische Gattungen, die sich kaum überschneiden. Die meisten Gesetzbücher enthalten keine Erzählungen, und die meisten Erzählungen keine Gesetze. Außerdem gibt es, wie Cover selbst bemerkt, keinen kanonischen Text, der beide Formen zusammenführen würde, auch wenn es in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten Menschen gibt, die mit der Geschichte hinter einem geltenden Gesetz vertraut sind. In den meisten Gesellschaften gibt es überdies viele verschiedene Möglichkeiten, eine konkrete Geschichte zu erzählen. Zudem werden die meisten Gesetze erlassen, ohne dass angegeben wird, warum sie in Kraft gesetzt wurden, was sie bezwecken und welche historischen Erfahrungen zu ihrer Verabschiedung geführt haben.
So ist die Tora eine einzigartige Kombination aus Nomos und Erzählung; Geschichte und Recht; den prägenden Erfahrungen eines Volkes und der Art und Weise, nach der diese Nation ihr kollektives Leben zu führen beabsichtigte, um die im Zuge ihrer Geschichte gelernten Lektionen nie zu vergessen. Sie vereint Vision und Detail auf unübertroffene Weise.
1 Robert Cover, „Nomos und Narrativ“, Vorrede zur Amtszeit 1982 des Obersten Gerichtshofs, Yale Faculty Scholarship Series, Schrift 2705, 1983. Das Dokument kann unter http://digitalcommons.law.yale.edu/fss_papers/2705 aufgerufen werden.
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Diesem Beispiel folgend, müssen wir führen, wenn wir Menschen mitnehmen und sie inspirieren wollen, ihr Bestes geben. Wir brauchen eine Vision, die uns beflügelt und sagt, warum wir das tun sollen, wozu wir berufen sind. Ebenso muss es eine Erzählung geben: Dies ist geschehen; das sind wir; und aus diesem Grund ist uns diese Vision so wichtig. Und letztlich muss es das Gesetz geben, den Kodex, die genaue Beachtung eines jeden Details, welche es uns ermöglicht, Visionen in Realität umzusetzen und den Schmerz der Vergangenheit in den Segen der Zukunft zu verwandeln. Diese außergewöhnliche Kombination, die in fast keinem anderen Gesetzbuch zu finden ist, verleiht der Tora ihre andauernde Kraft. Es ist ein Leitbild für alle, die andere Menschen zu Größe führen wollen.

  1. Warum ist die Vergegenwärtigung