Jul ‍‍2017 - תשעז / תשעח

VERWANDTSCHAFT

Ganz der Opa
Warum die Tora hervorhebt, dass Pinchas ein Enkel Aharons war
Für den heutigen Leser der Tora ist die Geschichte von Pinchas ben Elasar, die in unserem Wochenabschnitt erzählt wird, eine echte Herausforderung. Pinchas tötet einen Stammesfürsten – und wird dafür von G’tt belohnt!

Wie kann das sein? Was möchte uns die Tora damit lehren? Hat diese Begebenheit eine tiefere Bedeutung, als es auf den ersten Blick erscheint?

Doch gehen wir der Reihe nach. Das Drama beginnt im Wochenabschnitt Balak: Das jüdische Volk ist am Ende seiner 40-jährigen Wanderung in der Wüste und soll in einigen Monaten ins Land Israel einziehen. Sind alle Ärgernisse der Wanderung nun Vergangenheit?

BILEAM Das dachten sich wohl auch die Israeliten – und genau das wurde ihnen zum Verhängnis. Dem hinterlistigen Ratschlag des Zauberers Bileam folgend, haben die Moabiter eine Falle vorbereitet. Die sorglosen Israeliten passen nicht auf und lassen sich zum Götzendienst und zur Unzucht mit den moabitischen Frauen verführen.

G’tt befiehlt Mosche, die Sünder zu bestrafen. Da die meisten von ihnen aus dem Stamm Schimon kommen, versucht der Stammesführer Zimri, seine Leute zu retten, und wählt dafür einen zweifelhaften Weg: Er bringt Kosbi, eine midjanitische Prinzessin, ins jüdische Lager und besteht darauf, sie sich zu nehmen.

Zimri führt Kosbi in sein Zelt, und alle Entscheidungsträger des Volkes, auch Mosche, schauen wie gelähmt zu. Die Tora schreibt, sie hätten angesichts einer derartigen Chuzpa geweint.

Da flammt der Zorn G’ttes auf: Im Lager der Israeliten bricht eine Plage aus, und immer mehr Menschen sterben. Es droht eine Katastrophe.

In diesem Moment steht Pinchas auf und handelt: Er nimmt einen Speer in die Hand, drängt ins Zelt vor, wo Zimri gerade mit Kosbi schläft, und tötet die beiden.

Sofort hört die Epidemie auf. Damit endet der Wochenabschnitt Balak.

EIFER Gleich am Anfang unseres Wochenabschnitts spricht G’tt zu Mosche: »Pinchas, der Sohn Elasars, des Sohnes Aharons, des Priesters, hat meinen Grimm von den Kindern Israel gewendet durch seinen Eifer um mich, dass ich nicht in meinem Eifer die Kinder Israels vertilgte« (4. Buch Mose 25,10).

Als Belohnung für seine Tat schließt G’tt mit Pinchas den Bund des Friedens, und er wird zum Kohen ernannt.

Was in den heutigen Medien als eine »grausame außergerichtliche Exekution« angeprangert würde, ist für G’tt eine Heldentat, die eine besondere Belohnung verdient. Wir würden nun erwarten, dass Pinchas auch von seinen Mitmenschen als Held gefeiert wurde. Doch unsere Weisen erzählen, dass dies nicht der Fall war.

Der große Kommentator Raschi (1040–1105) erklärt die Worte »Pinchas, der Sohn Elasars, des Sohnes Aharons« mit einer Aussage unserer Weisen aus dem Talmud (Traktat Sanhedrin): »Weil die Stämme ihn verspotteten – ›Habt ihr den Sohn Putis da gesehen? Der Vater seiner Mutter hat Kälber für den Götzendienst gemästet, und er hat einen Fürsten in Israel getötet‹ –, deshalb kommt der Vers und hebt hervor, dass er von Aharon abstammt.«

Und das ist verblüffend! Warum haben die Stämme Pinchas verspottet, wenn er doch alle gerettet hat? Man könnte vielleicht vom Stamm Schimon Unzufriedenheit erwarten, schließlich wurde sein Anführer getötet – aber warum spotteten auch die anderen?

KÄLBER Der Lubawitscher Rebbe stellt noch weitere Fragen zu diesem überraschenden Kommentar Raschis: Was ist das für eine Anschuldigung: »Der Vater seiner Mutter hat Kälber für den Götzendienst gemästet«? Man könnte doch gleich sagen, dass Jitro, Pinchas’ Großvater mütterlicherseits, Götzendienst betrieben hat. Das ist doch viel schlimmer, als nur die Kälber für den Götzendienst zu mästen. Und warum schreibt Raschi »der Vater der Mutter« und nicht »Großvater«?

Die größte Frage aber ist: Wenn sich die Stämme sicher waren, dass Pinchas richtig gehandelt hat, was haben sie dann moniert? Und wenn sie meinten, Pinchas habe gegen die Halacha gehandelt, dann hätten sie ihn doch wegen Mordes verklagen müssen.

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zuerst klären, warum Raschi diese Geschichte hier überhaupt anführt. Denn er kommentiert nur dann, wenn er eine Schwierigkeit im Text sieht.

HINWEIS Was hat Raschi also gestört? Rabbi Schabtaj Bass (1641–1719) antwortet in seinem Kommentar Siftej Chachamim auf Raschi: »Am Ende von (Paraschat) Balak stand schon, dass Pinchas ›der Sohn Elasars, des Sohnes Aharons‹ ist, und hier, am Anfang des Wochenabschnitts Pinchas, wird es wiederholt. Folglich möchte uns die Tora hier auf etwas hinweisen.«

Deshalb, bemerkt der Lubawitscher Rebbe, musste Raschi diese merkwürdige Erklärung aus dem Talmud bringen. Diese Geschichte würde die Wiederholung von Pinchas’ Abstammung gut erklären. Aber wie?

Die Stämme hätten sich aus gutem Grund über Pinchas aufgeregt, sagt der Rebbe. Denn jeder musste sich fragen, warum nur Pinchas aufgestanden war und die Plage gestoppt hatte. Warum hatten die anderen daneben gestanden und nichts unternommen?

Auf diese unangenehme Frage hatten die Stämme schnell eine Antwort parat: Die Grausamkeit, die Pinchas wohl von seinem Großvater Jitro geerbt haben wird, ermöglichte ihm diese Tat. Alle anderen Israeliten hätten es nicht fertig gebracht, einen Fürsten kaltblütig zu ermorden.

GÖTZENDIENST Deshalb wurde nur auf das Mästen von Kälbern und nicht auf den Götzendienst an sich hingewiesen, und deshalb wurde auch betont, dass Jitro der Vater von Pinchas’ Mutter war. Denn wie Raschi in seinem Kommentar zum 1. Buch Mose schreibt, bekommt der Sohn viele Eigenschaften von der Mutter.

Deshalb weist die Tora darauf hin, dass Pinchas seine Eigenschaften nicht von Jitro, sondern von seinem anderen Großvater, von Aharon, geerbt hat. Und es war nicht die Grausamkeit, sondern die Liebe zum jüdischen Volk, die Aharon auszeichnete. Nur, weil Pinchas aus absolut reinen Motiven gehandelt hat, wurde seine eigentlich grausame Tat von G’tt gutgeheißen. Darin bestand Pinchas’ wahres Heldentum.

Aus dieser Begebenheit können wir zwei Dinge lernen. Erstens: Keiner darf heute Pinchas nachahmen, denn keiner von uns hat so reine Absichten wie Pinchas. Und zweitens: Wir sollen immer versuchen, unsere Mitmenschen positiv zu beurteilen. Auch wenn es den Anschein hat, dass jemand eine gute Tat aus falschen Gründen oder in falscher Absicht begangen hat, dürfen wir ihn nicht dafür rügen, denn eine gute Tat bleibt eine gute Tat und verdient Lob.
Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 13.07.2017