Okt ‍‍2019 - תשעט / תשף

Verborgenes Antlitz

Wunsch – Mosche bittet den Ewigen, Ihn sehen zu dürfen – doch dies ist keinem Menschen möglich

Mehr wissen — das will jeder neugierige Mensch. Oft ent- deckt man Interessantes oder Schönes, manchmal stößt man aber auch an die Grenzen der eige- nen Möglichkeiten und begreift, dass man doch nicht imstande ist, alles zu entdecken.
Noch mehr als an neuen Erkenntnissen über die Welt und das Universum ist der Mensch an dem interessiert, was außer- halb dessen liegt, was er verstehen kann.
Auch Mosche hat versucht, darüber hinauszugehen. Bei einer guten Gelegenheit, wahrscheinlich am Jom Kippur, nachdem er die Barmherzigkeit G’ttes erfahren hatte, der dem Volk nach der Sünde des Goldenen Kalbs verziehen hat, versuchte Mosche etwas, das ihm bisher nicht mög- lich war: Er bat G’tt, Ihn sehen zu dürfen. Doch G’tt erwiderte: Kein Mensch ist in der Lage, Mich zu sehen und am Leben zu bleiben. Wenn ein Mensch ein so hohes Niveau erreichen könnte, dann würde sich seine Seele vom Körper trennen, und der Mensch hörte auf zu existieren.
Dennoch wünschen wir uns, näher an die Quelle des Guten zu kommen. Auch wir wollen Ihn sehen.
G’tt gibt Mosche die Möglichkeit, etwas zu erreichen und zu entdecken, was ihm bis jetzt nicht gelungen war. Auch wenn wir Seine Substanz und Existenz nicht erreichen können, ist es uns erlaubt, zu ver- stehen, wie Er die Welt regiert. Aufmerksam und wachsam beobachten wir Seine Herrschaft in der Welt: wo es gut oder besser geht, aber auch, wo die Lage leider, G’tt behüte, nicht so gut ist.
Mosche möchte G’tt davon überzeugen, das Volk nach der Sünde des Goldenen Kalbs nicht ganz so streng zu bestrafen. Daraufhin lässt G’tt Mosche verstehen, wie und nach welchen Maßstäben Er die Welt regiert. Dies ist ein großer Moment für Mosche und die ganze Menschheit, denn G’tt lässt uns wissen, wie wir Seine Barmherzigkeit in schweren Zeiten erwecken können.
Die Methode wird von uns bis heute benutzt. Die 13 Eigenschaften und Tugenden des Schöpfers, die Mosche offenbart wurden, sind in unsere Gebete integriert.
Das Pilgern nach Jeruschalajim war, solange der Tempel stand, Bestandteil der Feiertage. »Dreimal im Jahr soll alles Männliche bei dir vor dem Ewigen, deinem G’tt, erscheinen an dem Ort, den Er erwählen wird« (5. Buch Mose 16,16).
Die Mizwa, die da vordergründig zu erfüllen ist, heißt: Re’ija. Das Wort kommt von dem Verb »sehen«. Doch jeder weiß, dass man Ihn nicht sehen darf. Was bedeutet dann diese Mizwa?
Das Sehen ermöglicht dem Menschen, das Erblickte im Gehirn zu speichern und es unvergesslich zu machen. Wenn man auch manches lieber vergessen will, fällt es schwer, gewisse Sachen und Ereignisse aus dem Gedächtnis zu löschen. Wer sich an den Feiertagsg’ttesdiensten im Tempel beteiligte, nahm diese Erinnerungen mit in seinen Alltag. Das Sehen des Tempels, des Ortes der Anwesenheit G’ttes in der Welt, ist für uns an den Feiertagen so ähnlich, wie es für Mosche war, als er G’tt am Sinai von hin- ten sehen durfte. Sein Antlitz kann man nicht sehen, da Seine Substanz weit jenseits unseres Verstandes ist. Man kann Ihn aber spüren, und man kann fühlen, dass Er immer da ist, um die Welt zu regieren.
G’tt sieht den Menschen, wenn er zum Bet HaMikdasch, dem Jerusalemer Tempel, kommt. Laut Raschi (Chagiga 2a) sieht der Mensch dort die Schechina, die g’ttliche Gegenwart. Und die Gemara sagt: So wie der Mensch kommt, um Ihn zu sehen, kommt er auch, um von G’tt gesehen zu werden.
Die Feiertage erheben uns aus unserem „ Alltag und lassen uns G’tt näherkommen. Es ist eine Gelegenheit, sich geistig zu erfüllen und sich mit dem Volk, der Tora Sund mit G’tt zu verbinden.
Aus: Allgemeine jüdische Wochenzeitung – 19.10.2019