Nov ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Tamars Heldentum

   Dies ist eine wahre Geschichte, die sich in den 1970er Jahren zugetragen hat. Rabbiner Dr. Nahum Rabinovitch, der damalige Rektor des Jews’ College, des Rabbinerseminars in London, an dem ich studierte und lehrte, wurde von einer Organisation angesprochen, die eine seltene Gelegenheit zum interreligiösen Dialog erhalten hatte: Eine Gruppe von afrikanischen Bischöfen wollte mehr über das Judentum erfahren. Wäre der Schulleiter bereit, die angehenden Absolventen dieses Jahrgangs zu einem solchen Dialog in ein Schloss in der Schweiz zu schicken?

Zu meiner Überraschung stimmte er zu. Er sagte mir, dass er dem jüdisch-christlichen Dialog im Allgemeinen skeptisch gegenüberstehe, weil er glaube, dass die Kirche im Laufe der Jahrhunderte von einem Antisemitismus infiziert worden sei, der nur schwer zu überwinden wäre. Damals hatte er jedoch das Gefühl, dass die afrikanischen Christen anders waren. Sie liebten den Tanach und seine Geschichten und waren, zumindest im Prinzip, offen für ein unverfälschtes Verständnis vom Judentum. Er fügte nicht hinzu – obwohl ich mir sicher war, dass er als einer der weltweit größten Experten für Maimonides auch daran dachte -, dass der große Weise aus dem zwölften Jahrhundert eine ungewöhnliche Einstellung gegenüber dem Dialog hatte: Maimonides glaubte, dass der Islam ein echter monotheistischer Glaube war, während das Christentum – zu jener Zeit – dies nicht war. Dennoch hielt er es für zulässig, den Tanach mit Christen zu studieren, jedoch nicht mit Muslimen, da die Christen glaubten, dass der Tanach (das sogenannte Alte Testament) das Wort Gottes sei, während die Muslime meinten, die Juden hätten den Text verfälscht.[1]

Also fuhren wir in die Schweiz. Es war eine ungewöhnliche Gruppe: die Semicha-Klasse des Jews’ College gemeinsam mit den herausragendsten Schülern der Jeschiwa in Montreux, an der der verstorbene Rabbiner Jechiel Weinberg, Autor von Seridej Ejsch und einer der weltweit führenden Autoritäten der Halacha, gelehrt hatte. Drei Tage lang hat die jüdische Gruppe mit besonderer Intensität gedawenet und gebentscht. Wir studierten täglich den Talmud. In der verbleibenden Zeit hatten wir eine ungewöhnliche, ja sogar transformative Begegnung mit den afrikanischen Bischöfen, die mit einem chassidischen Tisch endete, bei dem wir den Bischöfen unsere Lieder und Geschichten erzählten und sie uns die ihren. Um drei Uhr morgens tanzten wir zum Abschluss alle gemeinsam. Wir wussten, dass wir unterschiedlich waren, wir wussten, dass es tiefe Gräben zwischen unseren jeweiligen Religionen gab, aber wir waren Freunde geworden. Vielleicht ist das alles, was wir anstreben sollten. Freunde müssen nicht einer Meinung sein, um Freunde zu sein. Und Freundschaften können manchmal helfen, die Welt zu heilen.

Am Morgen nach unserer Ankunft hatte sich etwas ereignet, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen sollte. Der Träger der Veranstaltung war eine weltweit tätige, säkulare jüdische Organisation, und um ihrem Bezugsrahmen zu entsprechen, sollte der jüdischen Gruppe wenigstens ein nicht-orthodoxes Mitglied angehören: eine Frau, die für das Rabbinat studierte. Wir, die Semicha– und Jeschiwa-Studenten, beteten gerade den Schacharit-Gottesdienst in einem der Aufenthaltsräume des Schlosses, als die Reformjüdin mit Tallit und Tefillin hereinkam und sich in die Mitte der Gruppe setzte.

So etwas hatten die Studenten noch nicht erlebt. Was sollten sie tun? Es gab keine Mechiza, keine Möglichkeit, sich abzugrenzen. Wie sollten sie auf eine Frau reagieren, die mit Tallit und Tefillin inmitten einer Gruppe von dawenden Männern betete? Aufgeregt liefen sie zum Raw und fragten ihn, was sie tun sollten. Ohne einen Moment zu zögern, zitierte er ihnen den Spruch der Weisen: Ein Mensch sollte eher bereit sein, in einen Feuerofen zu springen, als einen anderen Menschen in der Öffentlichkeit zu beschämen. (Siehe Berachot 43b, Ketubot 67b) Damit hieß er sie, auf ihre Plätze zurückzukehren, und die Gebete wurden fortgesetzt.

Die Moral dieses Moments ist mir stets gegenwärtig. Der Raw, seit 32 Jahren Leiter der Jeschiwa in Maale Adumim, war und ist einer der großen Kenner der Halacha unserer Zeit.[2] Er wusste sofort, wie ernst der Gegenstand der Materie war, um den es hier ging: Männer und Frauen, die zusammen beten, ohne eine Barriere zwischen sich zu haben, und die komplexe Frage, ob Frauen Tallit und Tefillin tragen dürfen oder nicht. Die Angelegenheit war alles andere als einfach. Aber er wusste auch, dass die Halacha ein System ist, das die großen ethischen und spirituellen Wahrheiten in ein Geflecht von Taten zu verwandeln sucht, und dass man niemals die größere Vision durch eine ausschließliche Konzentration auf die Details verlieren darf. Hätten die Studenten darauf bestanden, dass die Frau woanders betet, hätten sie sie in große Verlegenheit gebracht. Beschäme niemals jemanden in der Öffentlichkeit. Das war das übergeordnete Gebot der Stunde. Das ist das Zeichen eines Menschen, der von einem großem Geist beseelt ist. Eines der größten Privilegien meines Lebens war es, über ein Jahrzehnt lang sein Schüler gewesen zu sein.

Der Grund, warum ich diese Geschichte hier erzähle, ist, dass sie eine der beeindruckenden und unerwarteten Lehren unserer Parascha ist. Juda, der Bruder, der vorschlug, Josef in die Sklaverei zu verkaufen (Gen. 37:27), war nach Kanaan „hinabgezogen“, wo er eine einheimische Kanaaniterin heiratete (Gen. 38:1). Der Ausdruck „hinabziehen“ wurde von den Weisen zu Recht als bedeutungsvoll angesehen.[3] So wie Josef nach Ägypten hinabgezogen war (Gen. 39:1), so war Juda moralisch und geistig abgestiegen. Hier tat einer von Jakobs Söhnen das, was die Patriarchen unbedingt vermeiden wollten: Er heiratete in die örtliche Bevölkerung ein. Es ist eine Geschichte des traurigen Niedergangs.

Er verheiratet seinen erstgeborenen Sohn Er an eine einheimische Frau, Tamar.[4] Ein obskurer Vers sagt uns, dass dieser sündigte und starb. Daraufhin verheiratete Juda seinen zweiten Sohn Onan mit ihr, nach einer vormosaischen Form der Leviratsehe, bei der ein Bruder verpflichtet ist, seine Schwägerin zu heiraten, wenn sie kinderlos verwitwet ist. Onan wollte jedoch kein Kind zeugen, das nicht als sein eigenes, sondern als das seines verstorbenen Bruders angesehen werden würde, und praktizierte eine Form des Koitus interruptus, die bis heute seinen Namen trägt. Dafür starb auch er. Nachdem Juda zwei seiner Söhne verloren hatte, war er nicht bereit, seinen dritten Sohn, Schela, mit Tamar zu verheiraten. Das Ergebnis war, dass sie als „lebende Witwe“ zurückblieb, die eigentlich ihren Schwager, den Juda ihr vorenthielt, hätte heiraten müssen und keinen anderen sonst.

Als sie nach vielen Jahren sah, dass ihr Schwiegervater (inzwischen selbst Witwer) nicht bereit war, sie mit Schela zu verheiraten, entschloss sie sich zu einer kühnen Tat. Sie zog ihre Witwenkleider aus, verschleierte sich und stellte sich an einen Ort, an dem Juda sie auf seinem Weg zur Schafschur aller Wahrscheinlichkeit nach sehen musste. Juda sah sie, hielt sie für eine Prostituierte und nahm ihre Dienste in Anspruch. Als Pfand für die versprochene Bezahlung bestand sie darauf, dass er ihr sein Siegel, seine Schnur und seinen Stab überließ. Als Juda am nächsten Tag mit dem Geld zurückkehrte, war die Frau nirgends zu entdecken. Er fragte die Einheimischen nach dem Verbleib der Tempelprostituierten (der Text verwendet an dieser Stelle das Wort Kedejscha, „Kultprostituierte“, und nicht Sona, was Judas Vergehen noch verschärft), aber niemand hatte eine solche Person in der Gegend gesehen. Verblüfft kehrte Juda nach Hause zurück.

Drei Monate später erfuhr er, dass Tamar schwanger war. Er zog daraus die einzige Schlussfolgerung, die er ziehen konnte: Sie hatte eine körperliche Beziehung zu einem anderen Mann gehabt, während sie rechtlich an seinen Sohn Schela gebunden war. Sie hatte Ehebruch begangen, der mit der Todesstrafe geahndet wurde. Tamar wurde hinausgeführt, um ihre Strafe zu empfangen, und Juda bemerkte sofort, dass sie seinen Stab und sein Siegel in der Hand hielt. Sie sagte: „Ich bin von dem Mann schwanger, dem diese Gegenstände gehören.“ Juda begriff, was sich zugetragen hatte, und verkündete: „Sie ist gerechter als ich“ (Gen. 38:26).

Dieser Moment ist ein Wendepunkt in der Geschichte. Juda ist der erste Mensch in der Tora, der ausdrücklich zugibt, dass er sich geirrt hat.[5] Wir sind uns dessen vielleicht nicht bewusst, aber dies scheint der Moment zu sein, in dem er die charakterliche Tiefe erlangt, die ihn zum ersten echten Baal Teschuwa werden lässt. Wir sehen dies Jahre später, als er – der Bruder, der vorschlug, Josef als Sklaven zu verkaufen – zu dem Mann wird, der bereit ist, den Rest seines Lebens in der Sklaverei zu verbringen, damit sein Bruder Benjamin frei sein kann (Gen. 44:33). Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass wir von hier aus den Grundsatz lernen, dass ein Büßer höher steht als selbst ein vollkommen rechtschaffener Mensch.[6] Juda, der Büßer, wird zum Stammvater der Könige Israels, während Josef, der Gerechte, nur ein Vizekönig ist, Mishne Lemelech, der dem Pharao untersteht.

So viel zu Juda. Die eigentliche Heldin der Geschichte ist jedoch Tamar. Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie schwanger wurde. In der Tat hätte man sie dafür fast getötet. Sie hatte es aus einem noblen Grund getan: Sie wollte sicherstellen, dass der Name ihres verstorbenen Mannes fortbesteht. Aber sie achtete nicht weniger darauf, dass Juda nicht in Schande geriet. Nur er und sie wussten, was sich zugetragen hatte. Juda konnte seinen Fehler eingestehen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Aus dieser Episode leiteten die Weisen die Regel ab, die Rabbi Rabinovitch an jenem Morgen in der Schweiz formulierte: Es ist besser, das Risiko einzugehen, in einen feurigen Ofen geworfen zu werden, als jemand anderen in der Öffentlichkeit zu beschämen.

Es ist also kein Zufall, dass Tamar, eine heldenhafte nichtjüdische Frau, die Vorfahrin von David wurde, dem größten König Israels. Es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen Tamar und der anderen heldenhaften Frau in Davids Ahnenreihe, der Moabiterin, die wir als Rut kennen.

Es ist alter jüdischer Brauch, am Schabbat und an Festtagen die Challot oder Maza beim Kiddusch zu bedecken. Der Grund dafür ist, dass das Brot nicht beschämt werden soll, während es sozusagen zugunsten des Weins übergangen wird. Leider gibt es einige äußerst religiöse Juden, die sich sehr bemühen, es zu vermeiden, einen leblosen Laib Brot zu beschämen, aber keine Skrupel haben, ihre jüdischen Mitmenschen zu beschämen, wenn sie sie für weniger religiös als sich selbst halten. Das passiert, wenn wir uns zwar nach der Halacha richten, aber das ihr zugrunde liegende moralische Prinzip vergessen.

Bringe nie jemanden in Verlegenheit. Das ist es, was Tamar Juda lehrte und was ein großer Rabbiner unserer Zeit diejenigen lehrte, die das Privileg hatten, seine Schüler zu sein.

[1] Maimonides, Teschuvot Harambam, Blau-Edition (Jerusalem, Mekizei Nirdamim, 1960), Nr. 149.

[2] Rabbi Sacks schrieb diesen Aufsatz ursprünglich im Jahr 2015. Rabbi Dr. Nachum Rabinovitch war Rabbi Sacks’ Raw, sein Rabbiner, Lehrer und Mentor. Leider verstarb er im Jahre 2020, wenige Monate vor Rabbi Sacks. Um mehr von Rabbi Sacks über Rabbi Rabinovitch zu lesen, sehen Sie bitte den Aufsatz My Teacher: In Memoriam, der für Matot-Massaj in der Reihe Covenant & Conversation geschrieben wurde.

[3] Nach der Überlieferung des Midrasch (Midrasch Agada, Pessikta Sutreta, Sechel Tow u.a.) wurde Juda von seinen Brüdern „hinabgeschickt“ oder exkommuniziert, weil er sie davon überzeugt hatte, Josef zu verkaufen, nachdem sie ihren Vater leiden sahen. Siehe auch Raschi ad loc.

[4] Targum Jonatan identifiziert sie als die Tochter von Noahs Sohn Schem. Andere halten sie für eine Tochter von Abrahams Zeitgenossen Malkizedek. Die Wahrheit ist jedoch, dass sie in der Erzählung ohne Abstammung auftaucht, ein Mittel, das die Tora oft verwendet, um zu betonen, dass moralische Größe oft unter gewöhnlichen Menschen zu finden ist. Es hat nichts mit der Abstammung zu tun. Siehe Alschich ad loc.

[5] Der Text ist hier voller verbaler Anspielungen. Wie wir festgestellt haben, ist Juda „hinabgestiegen“, so wie Josef „hinabgestürzt“ wurde. Josef ist im Begriff, zu politischer Größe aufzusteigen. Juda wird schließlich zu moralischer Größe aufsteigen. Tamars Betrug an Juda ähnelt dem Betrug Judas an Jakob – in beiden Fällen geht es um Kleidung: Josefs blutbefleckter Mantel, Tamars Schleier. Beide erreichen ihren Höhepunkt mit den Worten haker na, „Bitte prüfe doch“. Juda zwingt Jakob, eine Lüge zu glauben. Tamar zwingt Juda, die Wahrheit zu erkennen.

[6] Berachot 34b. Jonathan Sacks, Covenant & Conversation, Genesis: The Book of Beginnings, S. 303-314.

  1. Wer sind nach Rabbi Sacks’ Interpretation die Helden und wer die Übeltäter der Geschichte von Juda und Tamar?
  2. Welche Inhalte und Werte können wir aus den beiden Geschichten in diesem Essay ableiten?
  3. Wie hat Rabbi Rabinovitch diese Werte verinnerlicht? Wie können Sie dies in Ihrem Leben tun?