Jun ‍‍2016 - תשעו / תשעז

Nasirut

NASIRUT
Die Schöpfung genießen
Warum das Judentum wenig von Askese hält
Seit einigen Jahren beeinflusst ein neues Phänomen das Leben von Millionen Menschen: Facebook. Das soziale Netzwerk nimmt bei vielen einen wichtigen Stellenwert im Alltag ein. Es verbindet Menschen, erneuert alte und begründet neue Freundschaften. Es ermöglicht eine neue Art der Kommunikation. Viele sind sich einig: Facebook bereichert unser Leben, auch wenn es hier und da Diskussionen über seine negativen Seiten gibt und darüber, dass manchmal falsche moralische Botschaften vermittelt werden. Ebenso scheint das allgemeine Schamgefühl durch Facebook vermindert worden zu sein, denn die Fotos und Posts, die man dort sieht, sind oft moralisch verwerflich.

Doch was hat das mit unserem Wochenabschnitt zu tun? Am Anfang und am Ende von Paraschat Nasso begegnen uns Vorschriften über den Opferdienst im Tempel. In der Mitte jedoch werden zwei bedeutende und recht kontroverse Themen besprochen: »Sota«, eine Frau, die des Ehebruchs verdächtigt wird, und »Nasir«, eine Art Asket.

WEIN Der Nasir ist ein Mensch, der beschließt, sich gewissen weltlichen Genüssen zu entziehen. Im 5. Buch Mose, Kapitel 6, wird erklärt, dass jemand, der beschließt, ein Gelübde (Nesirut) auf sich zu nehmen, sich gewissen Vorschriften unterzieht: Demnach sind ihm für eine bestimmte Zeit gewisse Dinge wie das Trinken von Wein, der Genuss von Trauben, das Haareschneiden sowie der Kontakt mit Toten untersagt. Dieser Mensch wird einerseits als Heiliger, anderseits aber als Sünder bezeichnet. Wie kann das sein? Wie kann ein Mensch mit zwei so widersprüchlichen Attributen beschrieben werden?

Um dies zu verstehen, müssen wir nachvollziehen, warum jemand beschließt, Nasir zu werden. Hierzu betrachten wir eine Geschichte aus dem Talmud (Nedarim 9b) über einen Kohen namens Schimon HaZadik. Dieser Priester erzählt von einem besonderen Nasir, den er einmal getroffen hat: Er sei ein außergewöhnlich gut aussehender Mann gewesen. Doch seine langen Haare, die er sich wegen des Gelübdes nicht schneiden durfte, verdeckten seine Schönheit.

Schimon HaZadik fragte ihn: »Mein Sohn, was hast du dir dabei gedacht?«, denn durch die langen Haare verunstaltete er seine Schönheit. Darauf antwortete ihm der Nasir: Er sei einst zu einer Quelle gegangen, um Wasser zu schöpfen. Dort sah er im Wasser sein Spiegelbild und war sehr beeindruckt von seiner eigenen Schönheit. Dies sei so weit gegangen, dass er auf unsittliche Gedanken kam.

Wenn jemand zu stark seine Vorzüge sieht, wird er überheblich. Dies kann dazu führen, dass man sündigt. Und so sagte dieser Nasir, dass er dem bösen Trieb keine Chance lassen wollte und deshalb das Gelübde, die Nesirut, auf sich nahm.

Nachdem Schimon HaZadik diese Geschichte gehört hatte, sprang er auf und küsste den Nasir auf die Stirn. Schimon sagte, er habe noch nie zuvor einen so rechtschaffenen Nasir gesehen. Einen wie ihn nenne die Tora »Nasir für G’tt« (4. Buch Mose 6,2). Dieser Mann sei mit reinsten Absichten Nasir geworden, um sich nicht zu versündigen. Er könne als Heiliger bezeichnet werden.

SÜNDENOPFER Auf der anderen Seite wird jeder Nasir als Sündiger bezeichnet. Sogar jener Nasir, von dem eben die Rede war, brachte ein Sündenopfer. Wie kann ein Heiliger als Sündiger bezeichnet werden? Eine der Antworten, die im Talmud (Nedarim 10a) gegeben wird, ist: Dieser Mensch habe dem Genuss des Weins entsagt.

Wer beschließt, Nasir zu werden, entzieht sich den schönen Schöpfungen G’ttes. Das Judentum sagt, dass G’tt alle Dinge in dieser Welt geschaffen hat, damit wir sie genießen. Ein Mensch, der sich diesen entzieht, kann demnach als sündig bezeichnet werden. G’tt hat uns erschaffen, damit wir ihn preisen. Und um ihn richtig zu preisen, müssen wir seine Schöpfung genießen. Der Rambam, Maimonides (1135–1204), schreibt, dass wir nur durch die Erkenntnis der wunderbaren Schöpfungen G’ttes dazu kommen, Ihn zu lieben. Aber seien wir ehrlich – warum macht der Nasir das: Warum verbietet er sich, Wein zu trinken und Trauben zu essen? Warum verunstaltet er seine Schönheit, die ihm G’tt gegeben hat?

Er tut es, um nicht zu sündigen, um seinem bösen Trieb nicht freien Lauf zu lassen. Hier liegt das wesentliche Problem. Es gibt schließlich andere Möglichkeiten, sich dem Sündigen zu entziehen. Unsere Lehrer erklären: Wenn wir an unseren Wertvorstellungen arbeiten und sie veredeln, dann verspüren wir auch keinen Drang danach, zu sündigen. Wenn ein Mensch es in Ordnung findet, andere zu bestehlen, dann wird er im Nu zur Sünde des Diebstahls kommen. Ein Mensch aber, der das Stehlen verabscheut und zu dessen Wertvorstellungen es gehört, sein Hab und Gut ehrlich zu verdienen, wird die Sünde des Diebstahls eher nicht begehen.

Jetzt verstehen wir, warum der Nasir Sünder genannt wird und warum unsere Weisen erklären, dass es ein Vergehen ist, sich dem Wein zu entziehen. Hätte der Nasir einen Weg gefunden, an seinen Werten zu arbeiten, wäre er nicht dazu gezwungen gewesen, sich dem Wein zu entziehen und sein Haar wachsen zu lassen.

Seine Wertvorstellungen hielten ihn nicht davon ab, sich nur auf sein Aussehen zu konzentrieren und davon verführen zu lassen. Er wird ein Nasir, um seine Wertvorstellungen zu verändern und um sich beizubringen, dass es auf das Aussehen eines Menschen nicht ankommt.

EHEBRUCH Der Kommentator Raschi (1040–1105) erklärt, warum unser Abschnitt über den Nasir dem über die Sota folgt. Das vorherige Kapitel 5 im 4. Buch Mose berichtet von einer Frau, die des Ehebruchs bezichtigt wird. Sie muss sich einer Zeremonie unterwerfen, mit deren Hilfe festgestellt wird, ob sie ihrem Mann untreu gewesen ist.

Raschi erklärt: Wenn ein Mensch die Geschichte einer Sota hört, kommt er oftmals auf unsittliche Gedanken, die in seine Wertvorstellungen eindringen. Alles, was wir erfahren, hat einen Einfluss auf unsere Gedanken, unsere Gefühle und Werte. Deshalb schildert die Tora den Fall der Sota und berichtet unmittelbar danach von einem Menschen, dessen Ideale zu wünschen übrig lassen.

Auch Facebook ist eine Schöpfung von G’tt. Wie viele andere Dinge kann ihre Nutzung für uns und unsere Kinder Vor- und Nachteile haben. Es werden unterschiedliche Bilder und Posts ausgetauscht und für den Freundeskreis oder die ganze Welt sichtbar gemacht. Diese vermitteln Werte, gute Werte, aber auch Werte, die moralisch nicht vertretbar sind.

Unsere Kinder aber sollten wir so erziehen, dass wir auch diese Schöpfung genießen können und sie so nutzen, dass sie unser Leben nur positiv beeinflusst und bereichert.
Aus Allgemeine Jüdische Wochenzeitung- 30.05.2014