Jun ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Miriam, Moses´ Vertraute

Es ist eines der großen Geheimnisse der Tora. Bei der Ankunft in Kadesch beschwert sich das Volk bei Moses und Aaron über den Wassermangel. Die beiden Führer gehen zum Stiftzelt, und werden dort von Gott aufgefordert, den Stab zu nehmen und zum Felsen zu sprechen: es werde Wasser hervorkommen.

Was Moses dann tut, ist jedoch rätselhaft. Er nimmt den Stab und versammelt mit Aaron das Volk. Dann sprach Moses: „Hört nun zu, ihr Rebellen, sollen wir euch Wasser aus diesem Felsen bringen?“ Daraufhin „hob Moses seinen Arm und schlug zweimal mit seinem Stab auf den Felsen“ (Num. 20:10-11).

Dieses Verhalten kostete Moses und Aaron die Chance, das Volk über den Jordan ins Gelobte Land zu führen. „Weil du nicht genug Glauben an mich hattest, um mich vor den Israeliten zu heiligen, wirst du diese Gemeinschaft nicht in das Land führen, das ich ihnen gegeben habe“ (Num. 20:12)

Die Kommentatoren sind sich uneinig darüber, in welcher Hinsicht Moses’ Verhalten falsch war: War es sein Zorn? War es die Tatsache, dass er den Felsen schlug, anstatt mit ihm zu sprechen? Die Andeutung, dass er und Aaron und nicht Gott es waren, die Wasser aus dem Felsen brachten? Ich habe in einer früheren Ausgabe von Covenant & Conversation vorgeschlagen, dass Moses weder gesündigt hat noch bestraft wurde. Er handelte lediglich so, wie er es fast vierzig Jahre zuvor getan hatte, als Gott ihm befahl, den Felsen zu schlagen (Exod. 17:6), und zeigte damit, dass er zwar der richtige Führer für das in Ägypten versklavte Volk gewesen war, nicht aber der Führer für ihre Kinder, die in Freiheit geboren wurden und das Land erobern würden.

Dieses Mal möchte ich jedoch eine andere Frage aufwerfen. Warum also? Warum hat Moses diese besondere Prüfung nicht bestanden? Immerhin war er schon zweimal zuvor in einer ähnlichen Situation gewesen. Nachdem sie aus dem Roten Meer herausgekommen waren, war das Volk drei Tage lang unterwegs gewesen, ohne Wasser zu finden. Als sie schließich welches fanden, schmeckte dies bitter und sie beschwerten sich. Gott zeigte Moses, wie er das Wasser süß machen konnte (Exod. 15:22-26).

Als sie in Rephidim ankamen, fanden sie wieder kein Wasser und beklagten sich. In seiner Verzweiflung sagte Moses zu Gott: „Was soll ich mit diesem Volk tun? Sie sind fast bereit, mich zu steinigen.“ Gott weist Moses geduldig an, was er zu tun hat, und schließlich fließt Wasser vom Felsen (Exod. 17:1-7).

Moses hatte also in der Vergangenheit bereits zwei ähnliche Herausforderungen erfolgreich gemeistert. Warum verlor er nun bei dieser dritten Gelegenheit die emotionale Kontrolle? Worin unterschied sich dieses Mal von den vorherigen?

Die Antwort steht ausdrücklich im Text, aber so unmerklich, dass uns ihre Bedeutung leicht entgeht:

Im ersten Monat kam die ganze israelitische Gemeinde in der Wüste Zin an, und sie blieben in Kadesch. Dort starb Miriam und wurde begraben (Num. 20:1).

Unmittelbar danach lesen wir: „Nun gab es kein Wasser mehr für die Gemeinde, und das Volk versammelte sich gegen Moses und Aaron.“ Eine berühmte talmudische Stelle[1] erklärt, dass es Miriams Verdienst war, dass die Israeliten einen Wasserbrunnen hatten, der sie auf wundersame Weise durch ihre Wüstenwanderung begleitete. Als Miriam starb, versiegte das Wasser. Nach dieser Interpretation ist die Abfolge der Ereignisse auf übernatürliche Umstände zurückzuführen. Miriam starb. Dann gab es kein Wasser mehr. Daraus kann man schließen, dass es bis dahin Wasser gab, weil Miriam lebte. Es war also ein Wunder in ihrem Verdienst.

Es gibt jedoch eine andere Art, die Passage zu lesen: natürlich und psychologisch. Der Zusammenhang zwischen Miriams Tod und den darauf folgenden Ereignissen hatte weniger mit einem Wunderbrunnen zu tun als vielmehr mit Moses’ Reaktion auf die Klagen der Israeliten.

Dies war die erste Prüfung, der er sich als Führer des Volkes ohne die Anwesenheit seiner Schwester zu stellen hatte. Erinnern wir uns daran, wer Miriam für Moses war. Sie war seine ältere Schwester, das ältestes Geschwisterkind. Sie hatte über sein Schicksal gewacht, als er in einem geflochtenen Korb den Nil hinuntertrieb. Sie hatte die Geistesgegenwart und die Kühnheit, mit der Tochter des Pharaos zu sprechen und dafür zu sorgen, dass das Kind von einer israelitischen Frau gestillt wurde: von Jocheved, Moses’ eigener Mutter. Ohne Miriam wäre Moses aufgewachsen, ohne überhaupt zu wissen, wer er war und zu welchem Volk er gehörte.

Miriam ist während eines Großteils der Erzählung im Hintergrund präsent. Wir sehen sie, wie sie die Frauen am Roten Meer im Gesang anführt. Es ist klar, dass sie, wie Aaron, eine Führungsrolle hatte. Wir bekommen ein Gefühl dafür, wie viel sie Moses bedeutete, als sie und Aaron in einer obskuren Passage „anfingen, gegen Moses zu reden wegen seiner kuschitischen Frau, denn er hatte eine Kuschitin geheiratet“ (Num. 12:1). Es ist nicht klar, worum es genau ging, aber wir wissen, dass Miriam mit Aussatz geschlagen wird. Aaron wendet sich hilflos an Moses und bittet ihn, für sie zu intervenieren, was er mit schlichter Beredsamkeit in dem kürzesten aufgezeichneten Gebet – fünf hebräische Worte – tut: „Bitte, Gott, heile sie jetzt.“ Moses sorgt sich immer noch sehr um sie, trotz ihrer negativen Äußerung.

Erst in der Parascha dieser Woche bekommen wir einen Eindruck vom ganzen Umfang ihres Einflusses, und das auch nur andeutungsweise. Zum ersten Mal steht Moses ohne sie vor einer Herausforderung, und zum ersten Mal verliert Moses in der Gegenwart des Volkes die emotionale Kontrolle. Dies ist eine der Auswirkungen für jene, die einen Trauerfall erleiden, und diejenigen, die ihn erfahren haben, sagen oft, dass der Verlust eines Geschwisters schwerer zu ertragen ist als der eines Elternteils. Der Verlust der Eltern ist Teil der natürlichen Ordnung des Lebens. Der Tod eines Geschwisterkinds kann weniger erwartet werden und zutiefst verwirrend sein. Miriam war überdies kein gewöhnliches Geschwisterkind. Moses verdankte ihr seine gesamte Beziehung zu seiner natürlichen Familie sowie seine Identität als einer der Kinder Israels.

Es ist ein Klischee zu sagen, dass Führerschaft ein einsames Unterfangen ist. Aber gleichzeitig kann keine Führungspersönlichkeit wirklich allein überleben. Jitro sagte dies Moses viele Jahre zuvor. Als er ihn sah, wie er das Volk allein anführte, sagte er: „Du und diese Leute, die zu dir kommen, ihr werdet nur ermüden. Die Arbeit ist zu schwer für dich; du kannst sie nicht allein bewältigen“ (Exod. 18:18). Eine Führungskraft braucht drei Arten der Unterstützung: (1) Verbündete, die an seiner Seite kämpfen; (2) Truppen oder ein Team, an das er delegieren kann; und (3) einen oder mehrere Seelenverwandte, denen er seine Zweifel und Ängste anvertrauen kann, die ihm zuhören, ohne eine andere Absicht zu haben, als eine unterstützende Präsenz zu sein, und die ihm den Mut, das Vertrauen und die schiere Belastbarkeit geben, weiterzumachen.

Nachdem ich durch persönliche Freundschaft viele Führungskräfte in vielen Bereichen kennengelernt habe, kann ich mit Gewissheit sagen: Es ist falsch, anzunehmen, dass Menschen in hohen Führungspositionen ein dickes Fell haben. Die meisten von denen, die ich gekannt habe, haben das nicht. Sie sind oft zutiefst verletzlich und können tief unter Zweifeln und Unsicherheiten leiden. Sie wissen, dass eine Führungskraft oft eine Wahl zwischen zwei Übeln treffen muss, und man weiß nie im Voraus, wie eine Entscheidung ausfallen wird. Führungskräfte können durch Kritik und den Verrat von Menschen, die sie einst als Freunde betrachteten, verletzt werden. Weil sie Anführer sind, zeigen sie in der Öffentlichkeit selten Anzeichen von Verwundbarkeit. Sie müssen eine Gewissheit und Zuversicht ausstrahlen, die sie nicht immer fühlen. Ronald Heifetz und Marty Linsky, die Harvard-Führungsexperten, haben jedoch Recht, wenn sie sagen: „Die harte Wahrheit ist, dass es nicht möglich ist, die Belohnungen und die Freude der Führung zu erleben, ohne auch den Schmerz zu erfahren.“[2]

Führungskräfte brauchen Vertrauenspersonen, Menschen, „die ihnen sagen, was sie nicht hören wollen und von niemandem sonst hören können, Menschen, denen sie sich anvertrauen können, ohne dass ihre Enthüllungen in die Arbeitswelt zurückschwappen.“ Eine Vertrauensperson kümmert sich mehr um den Freund in Führungsposition als um die Probleme. Sie heben ihn hoch, wenn er niedergeschlagen ist, und holen ihn sanft in die Realität zurück, wenn er in Gefahr ist, selbstgefällig zu werden. Heifetz und Linsky schreiben: „Fast jeder Mensch, den wir kennen, der schwierige Führungserfahrungen gemacht hat, hat sich auf eine Vertrauensperson verlassen, die ihm geholfen hat, da durchzukommen.“[3]

Maimonides zählt dies in seinem Kommentar zur Mischna zu einer der vier Arten von Freundschaft.[4]  Er nennt es die „Freundschaft des Vertrauens“ [Chaver Habitachon] und beschreibt einen solchen Menschen als jemanden, zu dem „man absolutes Vertrauen hat und mit dem man völlig offen ist“, wobei man weder die guten noch die schlechten Nachrichten verbirgt, weil man weiß, dass die andere Person weder die geteilten Vertraulichkeiten ausnutzen noch sie mit anderen teilen wird.

Eine sorgfältige Lektüre unseres Wochenabschnitts im Kontext von Moses’ frühem Leben legt nahe, dass Miriam Moses’ „vertraute Freundin“ war, seine enge Verbündete, die Quelle seiner emotionalen Stabilität, und dass er, als sie nicht mehr da war, Krisen nicht mehr so bewältigen konnte wie bis dahin.

Diejenigen, die für andere eine Quelle der Stärke sind, brauchen ihre eigene Quelle der Stärke. Die Tora sagt uns ausdrücklich, wie oft für Moses diese Kraftquelle Gott selbst war. Aber auch Moses brauchte einen Freund, und es scheint, dass dies Miriam war. Sie war nicht nur selbst eine Führungspersönlichkeit, sondern auch eine Quelle der Kraft für ihren Bruder.

Selbst der Größte kann nicht allein führen.

[1] Taanit 9a.

[2] Ronald Heifetz und Marty Linsky, Leadership on the Line (Boston, Harvard Business School Press, 2002), S. 227.

[3] Ibid., S. 200.

[4] Maimonides, Kommentar zur Mischna Avot 1:6.