Mai ‍‍2018 - תשעח / תשעט

Macht der Worte

SCHABBAT

Warum die Tora ganz bewusst zwischen »sagen« und »sprechen« unterscheidet
Die Parascha dieser Woche erklärt die spezielle Lebensweise der Kohanim (Priester) und beginnt mit folgender Anweisung: »Der Ewige redete zu Mosche: Sage nun zu den Priestern, den Söhnen Aharons …« (3. Buch Mose 21,1).

Es fällt auf, dass die Tora die Wurzel »amar« (reden/sagen) nur in diesem Vers zweimal verwendet – also ausgerechnet dann, wenn sie in die zusätzlichen Mizwot und Einschränkungen der Kohanim einführt. Daher kommt auch der Name dieser Parascha: Emor. An anderen Stellen haben wir immer, wenn G’tt Mosche oder dem jüdischen Volk Mizwot erklärt, eine Kombination aus den beiden Verben »daber« (sprechen) und »amar« (sagen), also entweder »Vajedaber Haschem el Mosche l’emor …« oder »Vajomer Haschem el Mosche daber …«. Da stellt sich die Frage, warum die Tora hier nur das Verb »amar« verwendet und nicht auch »daber«.

DEUTUNG Es gibt zwei interessante Erklärungen: Die eine stammt von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), dem Begründer der modernen Orthodoxie und einem der großen Vordenker des toratreuen Judentums. Die andere ist von Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986), der wohl wichtigsten halachischen Autorität des zeitgenössischen aschkenasischen Judentums.

Rabbiner Hirsch erklärt, dass es einen Unterschied zwischen »daber« (sprechen) und »emor« (sagen) gibt. Sprechen, so erklärt er, geschieht, ohne darauf zu achten, ob der Angesprochene auch tatsächlich genau zuhört und alles aufnimmt, was gesprochen wurde. Sagen hingegen ist eine genaue Mitteilung. Man kann für sich allein sprechen, aber nicht sagen. Rabbiner Hirsch schreibt in seinem Kommentar zum 3. Buch Mose 21,1: »Während ›daber‹ der konzise Ausdruck eines Gedankens ist, ist ›emor‹ das Hineinreden desselben in Geist und Gemüt eines anderen, somit vollständige Erläuterung und Entwicklung eines Gedankens. Daher in der Gesetzesrede immer ›daber‹, der kurz gefasste prägnante Ausspruch eines Gesetzes, wie er uns in der schriftlichen Tora gegeben ist, ›emor‹ aber die vollständige Erläuterung, wie sie uns durch die mündliche Tora zugekommen.«

Während sich G’tt vorher, beispielsweise in der Parascha vergangene Woche, an das ganze Volk mit Erklärungen zur Tora gewandt hatte, kommuniziert er nun exklusiv mit den Priestern. Während also letzte Woche zum ganzen Volk gesprochen wurde, aber G’tt vielleicht nicht von allen erwartete, dass sie wirklich zuhören und sich alles detailliert merken würden, sind nun die Kohanim im Fokus von G’ttes Wort. Sie müssen ganz genau zuhören und sich alles gut merken, denn sie haben einen besonderen Status: Sie werden das Volk religiös-spirituell führen und ihm Antworten geben müssen, und sie haben den Tempeldienst zu verrichten. Die Kohanim müssen also ganz genau zuhören. Deshalb darf Mosche nicht nur einfach sprechen, sondern er muss ihnen sagen, was sie zu tun haben.

PFLICHT Rabbiner Feinstein hat eine andere Erklärung: Er weist darauf hin, dass »daber« stark und fest reden bedeutet, während »amar« eher einem weicheren Ton in der Rede entspricht. Rabbiner Feinstein zitiert die Gemara in Makot (Daf 11). Sie erklärt, dass die Tora meist »daber« verwendet, weil Haschem betonen möchte, dass wir es mit Mizwot zu tun haben, wir also zu etwas verpflichtet sind. Daher die starke, feste Sprache von »daber« bei der Einführung der meisten Mizwot.

Für die Kohanim gelten zum Teil strengere Gesetze als für andere Juden. Priester haben besondere Regeln bei der Heirat oder bezüglich des Kontakts mit Toten zu beachten. Der Alltag ist für sie also grundsätzlich schwieriger.

Die Kohanim sollen jedoch verstehen, dass diese zusätzlichen Einschränkungen Teil eines sozusagen größeren Pakets sind. Sie stehen im Einklang mit ihrer besonderen Stellung zu Haschem und haben mit ihrem Dienst im Beit HaMikdasch, dem Tempel, zu tun sowie mit ihrer Rolle als spirituelle Führungspersönlichkeiten des jüdischen Volkes. Das weiche »amar«, so Feinstein, werde also in unserem Vers verwendet, damit die Kohanim nicht sofort denken, die zusätzlichen Beschränkungen seien zu schwierig. Im Gegenteil: Sie haben für den Kohen letztendlich sogar einen Nutzen, denn sie sind mit seinem besonderen Status verbunden.

GEGENWART Rabbiner Feinsteins Erklärung lässt sich gut mit unserer Situation heute verknüpfen: Es ist nicht immer leicht, jüdisch zu sein. Ganz im Gegenteil. Es kann manchmal anstrengend sein, und wer mag schon Anstrengendes. Aber es gibt auch einen großen Nutzen, ein bewusster Jude, eine bewusste Jüdin zu sein: Man hat eine jüdische Gemeinde, jüdische Verwandte und Freunde. Darüber hinaus gibt es die jüdischen Rituale, die Werte, das Zusammensein am Schabbat und an den Feiertagen.

Dieses Füreinander-Da-Sein zeichnet das Judentum besonders aus. Genau dafür lohnt es sich, die eine oder andere Einschränkung in Kauf zu nehmen und mehr Verpflichtungen zu haben als andere. Für unsere Identität ist das sehr wichtig und, wenn wir ehrlich sind, doch auch ein Geschenk, das wir gern annehmen.

Aber – um auf Rabbiner Hirsch einzugehen – das heißt natürlich auch, dass wir nicht einfach nur irgendwie zuhören oder gar weghören, wenn jemand über Religiöses spricht (»daber«). Mehr denn je ist es wichtig, dass wir auch den »emor«-Part erfüllen – also genau zuhören. Seit der Zerstörung des Tempels gibt es keine Priester mehr, die zwischen G’tt und uns spirituell vermitteln. Wir alle sollen ein heiliges Volk von Priestern sein (2. Buch Mose 19,6). Das heißt, wir müssen Verantwortung übernehmen. Unser Leben besteht eben nicht nur aus Vorteilen, sondern auch aus Verpflichtungen – es lohnt sich aber allemal.
Aus Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 07.05.2015