Nov ‍‍2015 - תשעה / תשעו

LESART

LESART
Fluch und Segen
Wer die Tora fleißig studiert, den erhebt sie. Doch wer sie missbraucht, den kann sie töten
Im Wochenabschnitt Wajeze berichtet die Tora von dem emotionalen Treffen zwischen Jakov und seiner zukünftigen Frau Rachel: »Und Jakov küsste Rachel, und er erhob seine Stimme und weinte« (1. Buch Moses 29,11).

Warum weinte Jakov? Über das lang ersehnte Treffen mit seiner künftigen Frau sollte er sich doch freuen. Es kann nicht an seiner Enttäuschung über ihr Aussehen gelegen haben, denn wir wissen, dass Rachel sehr hübsch war. Außerdem muss es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, sonst hätte Jakov nicht 14 Jahre für Rachel gearbeitet. Waren es also Freudentränen, oder hat er tatsächlich einen so tiefen Schmerz verspürt, dass er weinen musste?

Raschi (1040–1105) kommentiert, dass Jakov die Tränen kamen, weil er vorhersah, dass er nach seinem Tod nicht neben Rachel begraben sein würde. An anderer Stelle erklärt Raschi: Jakov weinte, weil er für seine zukünftige Frau keine Geschenke mitgebracht hatte.

DILEMMA Was im Vorfeld dieser Ereignisse vorgefallen ist, erklärt uns der Midrasch. Jakov wurde auf dem Weg zu Rachel von seinem eigenen Neffen Elifas ausgeraubt. Dessen Vater, Esaw, befahl seinem Sohn, Jakov zu töten. Doch da Elifas zum Teil im Hause seines Großvaters Jitzchak aufgewachsen war und von ihm erzogen wurde, brachte er es nicht über sich, Jakov zu töten. Nun stand er da, mit seinem Dilemma: Wenn er Jakov tötet, übertritt er eins der Gebote der Tora, die ihm Jitzchak vermittelt hatte. Doch wenn er Jakov nicht tötet, widersetzt er sich dem Befehl seines Vaters.

Genauso wie Esaw war auch Elifas sehr darauf bedacht, das Gebot, die Eltern zu ehren, mit aller Genauigkeit zu erfüllen. Verzweifelt wandte er sich an Jakov und fragte ihn, was er machen solle. Jakov empfahl seinem Neffen, ihm, dem Onkel, alle Besitztümer wegzunehmen. Diese Logik findet sich auch im Talmud, Traktat Nedarim. Dort steht, dass einer, der keine Besitztümer hat, wie ein Toter angesehen wird. Jakov fand also einen Weg, wie Elifas, ohne den Onkel zu töten, nicht gegen seinen Vater rebellieren musste.

Doch wie konnte Elifas in ein solches Dilemma geraten? Seinen Onkel zu töten, um seinen Vater zu ehren? Ist es nicht für jeden selbstverständlich, dass es viel schwerwiegender ist zu töten als den Willen der Eltern nicht zu befolgen? Warum war es bei Elifas anders? An diesem Beispiel sehen wir, wie die Tora und ihre Gebote für böse Absichten benutzt werden können.

Im letzten Vers des Buches Hosea steht geschrieben: »Wer doch weise wäre, dass er dies einsähe, verständig, dass er es erkenne. Denn gerade sind die Wege des Ewigen, die Gerechten wandeln darauf, und die Missetäter straucheln darauf« (14,10).

Raschi erklärt diesen Vers und sagt, dass derselbe Weg G’ttes, der dazu dient, einen gerechten Menschen zu erheben, den Bösewicht zum Straucheln bringt. Das Gebot, den Vater zu ehren, wird einen gerechten Mann noch mehr erheben – doch einen Bösewicht wie Elifas bringt es zu Fall. Wenn man die Tora falsch benutzt, kann sie tödlich wirken. Das meinen auch unsere Weisen, wenn sie sagen, dass die Tora für denjenigen, der sie fleißig studiert, zu einer Lebensquelle wird. Doch wer das Studium der Tora locker nimmt, für den wird dieselbe Tora wie ein tödliches Gift wirken.

Genau aus diesem Grund, sagen unsere Weisen, sei einer der direkten Nachkommen von Elifas, kein anderer als Amalek gewesen. Denn alle anderen Kinder von Esaw sind einfache Bösewichte gewesen. Doch Elifas hatte eine tödliche Waffe, die Tora, in seinen Händen, die er für falsche Zwecke benutzen konnte.

AFFE Wenn man auf Hebräisch den Namen Amalek zerlegt, bekommt man Amal und Kof, also »das Werk eines Affen« übersetzt. Ein Affe ist das Tier, das dem Menschen am meisten ähnelt. Und wenn man einen Affen betrachtet, könnte man irrtümlicherweise zu dem Schluss kommen, er sei mit dem Menschen verwandt. Doch egal, wie stark ein Affe äußerlich dem Menschen ähnelt, in seinem Inneren bleibt er nur ein Tier, das im Gegensatz zum Menschen nicht in der Lage ist, seine Triebe zu beherrschen.

Genauso war das amalekitische Volk: Von außen haben sie immer reine und heilige Absichten vorgegeben, doch in Wirklichkeit war alles nur gespielt. Der wahre Grund ihrer Versuche, uns zu töten, ist ausschließlich unnatürlicher Hass gegen uns gewesen. Doch dieser Hass war nicht nur gegen uns, sondern auch gegen G’tt gerichtet, und obwohl sie sich hinter den heiligen Absichten versteckten, haben sie in Wirklichkeit gegen G’tt rebelliert.

Und so sagen unsere Weisen, dass Menschen, die scheinheilig sind und ihre guten und heiligen Absichten nach außen nur vorspielen, in der Regel viel gefährlicher sind als diejenigen, die zumindest ehrlich ihre Meinung äußern. Denn jemand, der dir nahesteht, kann dich viel stärker verletzen als jemand, der es von Weitem versucht. Möge der Allmächtige uns dabei helfen, scheinheilige Menschen, die sich hinter heiligen Idealen verstecken, zu erkennen und sie richtig zuzuordnen.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 22.11.2012