Okt ‍‍2016 - תשעו / תשעז

Leadership

Bescheiden, menschlich, gerecht

Woran man eine gute Führungskraft erkennt

In den vergangenen Jahren wurde »Leadership« sehr populär, besonders im Bereich der Unternehmensführung. Ganze Studiengänge spezialisieren sich mittlerweile darauf. Dabei geht es vor allem darum, wie man die Beschäftigten zu Hochleistungen motiviert und die Firma prozessorientiert verändert, um das Unternehmen noch effizienter und lukrativer zu machen.

Das Judentum hat ein ganz anderes Bild von »Leadership«. Der Wochenabschnitt Wajelech zeigt uns gleich zwei große Beispiele für Führungspersönlichkeiten: Mosche und Jehoschua. Kurz vor seinem Tod gibt Mosche die Führungsrolle an Jehoschua weiter. Er sagt zum ganzen Volk Israel: »Jehoschua wird euer Anführer sein« (5. Buch Moses 31,3). Danach segnet er Jehoschua: »Sei beherzt und tapfer« (31,7). Doch was qualifizierte eigentlich Mosche oder Jehoschua für ihre Führungsaufgabe – was ist also wichtig für jüdisches Leadership?

Natürlich ist es einerseits die Berufung durch G’tt. Mosche wurde sogar unfreiwillig zum Anführer des jüdischen Volkes (2. Buch Moses 3,1 – 4,17). Und Jehoschua wird in unserem Wochenabschnitt von G’tt gesegnet (5. Buch Moses 31,23).

Doch die Berufung kommt nicht von ungefähr. Der Charakter ist entscheidend, also wie jemand ist und wie er andere Menschen behandelt. Mosche scheint auf den ersten Blick keine gute Wahl zu sein. Er ist kein guter Redner, er stottert und hat einen Menschen getötet (2. Buch Moses 2,12).

GERECHTIGKEIT Doch Mosche hat eben auch die Qualitäten und Eigenschaften, die aus jüdischer Sicht für einen Anführer entscheidend sind. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dreimal setzt er sich für Schwächere ein, die ungerecht behandelt werden: für einen israelitischen Sklaven, der von einem Ägypter gequält wird, für einen Israeliten, der von einem anderen Israeliten angegriffen wird, und für ein nichtjüdisches Mädchen, das von Hirten schlecht behandelt wird (2. Buch Moses 2, 11–17).

Im Laufe der Wüstenwanderung hat Mosche immer ein offenes Ohr für die Probleme der Israeliten und versucht zu helfen, wo er kann. Verfehlungen seitens des Volkes vergibt er. Dabei ist und bleibt Mosche stets bescheiden. Der Babylonische Talmud (Joma 22b) erklärt, dass dies eine der wichtigsten Eigenschaften von Gemeindevorstehern ist.

In unserem Wochenabschnitt übergibt er seine Führungsaufgaben an Jehoschua – auch das gelingt nur bei einem guten »Leader« reibungslos. Mosche hat Jehoschua seit Langem als eine Art Assistent auf diese Aufgabe vorbereitet. Und nun verkündet er den Wechsel an der Spitze vor dem ganzen Volk, damit jegliche Missverständnisse von vornherein ausgeräumt werden. Auch wenn laut Midrasch (Dewarim Rabba 9,4 und 9,9) Mosche nicht gerne geht, so tut er es doch. In seiner Weitsicht sucht er sich den am besten geeigneten Kandidaten aus – und nicht etwa jemanden aus seiner Familie oder einen, der ihm sonst nahesteht.

ERBE Jehoschua tritt kein leichtes Erbe an. Kein anderer Prophet war wie Mosche, kein anderer hatte einen solch direkten Draht zu G’tt wie er. Und dennoch ist Jehoschua »beherzt und tapfer« und stellt sich der Verantwortung. Er wird in der Bibel und der rabbinischen Literatur als gewissenhafte, bescheidene und kluge Führungspersönlichkeit beschrieben. Trotz großen persönlichen Risikos sagt er als einer der Kundschafter, dass die Eroberung Kanaans möglich ist – gegen alle anderen. Gegen Amalek und später bei der Eroberung des Landes Israel zeigt er seine Qualitäten als Heerführer. Er erfüllt seine Aufgabe, bringt das Volk Israel sicher ins Gelobte Land und etabliert es dort.

Ich würde mir wünschen, dass es mehr Führungspersönlichkeiten wie Mosche und Jehoschua geben würde, ob in der Wirtschaft oder der Gesellschaft. Zu oft sind unsere Verantwortungsträger entweder zu zögerlich oder zu machtbesessen. Zu wenig wird auf die Menschen und ihre Bedürfnisse geachtet, und manchmal sind es nur materielle Erwägungen, nach denen entschieden wird. Potenzielle Nachfolger werden nicht immer gefördert, sondern sogar als Konkurrenten »entsorgt«. Was wir brauchen, ist ein »Leadership« nach den Kriterien von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Bescheidenheit.

Aus Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 21.09.2012