Sep ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Konsens oder Befehl

   Was geben Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg? Welchen Rat haben Sie für ihn oder für sie? Wajelech ist der Wochenabschnitt, in dem wir die Antwort finden, denn jetzt übergibt Moses die Zügel an Josua, und sowohl er als auch Gott geben ihm ihren Segen für die Zukunft. Jedoch unterschieden sich die Segenssprüche.

Liest man sie, hören sie sich fast gleich an. Moses sagt: „Sei stark und guten Mutes, denn du wirst mit diesem Volk in das Land kommen (tawo)“ (Deut. 31:7). Gott sagt: „Sei stark und guten Mutes, denn du wirst die Israeliten in das Land bringen (tawi)“ (Deut. 31:23). Tawo oder tawi, „mitkommen“ oder „bringen“. Die Worte klingen und scheinen ähnlich. Aber der Unterschied, wie ihn die Weisen verstanden, war elementar.

Raschi drückt es folgendermaßen aus:

Moses sagte zu Josua: „Sorge dafür, dass die Ältesten der Generation bei dir sind. Handle immer nach ihrer Meinung und ihrem Rat.“ Doch der Heilige, gepriesen sei Er, sagte zu Josua: „Denn du wirst die Israeliten in das Land bringen, das ich ihnen versprochen habe“ – was bedeutet: „Bring sie auch gegen ihren Willen. Es hängt alles von dir ab. Wenn nötig, nimm einen Stock und schlag ihnen auf den Kopf. Es gibt nur einen Führer für eine Generation, nicht zwei.“

Dies sind die beiden Extreme der Führung: Konsens oder Befehl. Moses riet Josua, eine Politik der Konsultation und Schlichtung zu verfolgen. Was er damit sagen wollte, war: „Du brauchst dem Volk nicht zu folgen. Du bist der Anführer, nicht sie. Aber du musst mit den Ältesten zusammenarbeiten, auch sie sind Führer. Sie bilden gewissermaßen dein Team. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie an der Entscheidungsfindung beteiligt sind. Sie werden nicht erwarten, dass du ihnen immer zustimmst. Oft werden sie auch selbst nicht einer Meinung sein. Aber sie müssen das Gefühl haben, konsultiert zu werden.“

„Wenn sie das Gefühl haben, dass du nicht an ihrer Meinung interessiert bist, wenn sie den Eindruck haben, dass du entschlossen bist, alles auf deine Weise zu machen, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, weil du es besser weißt, werden sie versuchen, dich zu sabotieren. Sie werden dir Schaden zufügen. Vielleicht wird es ihnen nicht gelingen. Du magst wohl überleben. Aber du wirst verletzt sein, humpeln. Dein Ansehen unter den Menschen wird sich verringern. Sie werden sagen: Wie können wir jemanden respektieren, der von den Ältesten nicht geachtet wird?“

„Ich spreche aus Erfahrung. Die Rebellion von Korach war ernst. Es war nicht nur Korach, es waren auch die Rubeniter und andere Führer aus den verschiedenen Stämmen. Und obwohl die Rebellion auf die dramatischste Art und Weise beendet wurde, waren wir alle geschwächt, und nichts war mehr so, wie es einmal war. Also: Sorge dafür, dass die Ältesten der Generation hinter dir stehen. Wenn sie dies tun, werdet ihr Erfolg haben.“

Gott, so sagen die Weisen, verfolgte den entgegengesetzten Ansatz. „Die Zeit ist gekommen, die Wüste zu verlassen, den Jordan zu überqueren, das Land zu erobern und eine Gesellschaft aufzubauen, die die Menschen, die ich nach meinem Bild geschaffen habe, ehrt, anstatt sie zu versklaven und auszubeuten. Suche nicht nach einem Konsens. Du wirst ihn nie finden. Die Interessen der Menschen sind unterschiedlich, ihre Perspektiven nicht die gleichen. Die Politik ist eine Arena der Konflikte. Ich wollte nicht, dass es so ist, aber nachdem ich der Menschheit das Geschenk der Freiheit gemacht habe, kann ich es nicht zurücknehmen und meinen Willen mit Gewalt durchsetzen. Also musst du den Menschen den Weg zeigen.“

„Gehe ihnen voran. Sei klar. Sei konsequent. Sei stark. Die letzte Person, die dem Volk gab, was es wollte, war Aaron, und was sie wollten, war ein goldenes Kalb. Das war fast das Ende des jüdischen Volkes. Konsens, sei es in der Politik, in der Wirtschaft oder sogar bei der Suche nach der Wahrheit, ist keine Führung, sondern der Verzicht auf Führung. Ich habe dich als Nachfolger von Moses ausgewählt, weil ich an dich glaube. Deshalb glaube du auch an dich selbst. Sag dem Volk, was es tun soll, und sag ihm, warum.“

„Sei ihnen gegenüber respektvoll. Höre ihnen auf jeden Fall zu. Aber letztlich liegt die Verantwortung bei dir. Führungspersönlichkeiten führen. Sie folgen nicht. Und glaube mir, auch wenn sie dich jetzt vielleicht kritisieren, werden sie dich am Ende bewundern. Die Menschen wollen, dass ihre Führungskraft den Weg kennt, den Weg geht und ihnen den Weg weist. Sie wünschen sich Entschlossenheit. Behandle die Menschen immer mit größter Höflichkeit und Respekt. Aber wenn sie sich dir gegenüber nicht so verhalten, wie du es ihnen gegenüber tust, wenn sie sich dir widersetzen und versuchen, deine Arbeit zu vereiteln, mag dir nichts anderes übrig bleiben, als einen Stock zu nehmen und ihnen auf den Kopf zu schlagen. In einer Generation gibt es nur einen Anführer. Wenn alle dirigieren, gibt es keine Musik, sondern nur Lärm; nichts wird vollbracht, es gibt nur endlose Diskusionen, wo alle reden und niemand zuhört.“

Das waren damals wie auch heute die beiden Alternativen. Aber eigenartig: Derjenige, der auf Konsens drängt, ist Moses. Er selbst aber hat nie im Konsens gehandelt. Er ist der Mann, der das Volk fast aus Ägypten herausschleppen musste, durch das Meer und durch eine heulende Wüste, der Mann, der aus eigenem Antrieb Dinge tat, ohne Gott zu fragen.

Er ist der Mann, der die von Gott selbst gehauenen und gemeißelten Steintafeln zerbrach. Wann hat Moses jemals durch Konsens geführt? Er hatte zwar siebzig Älteste, Stammesfürsten und eine dezentrale Verwaltungsstruktur mit Vorstehern von Einheiten von Tausend, Hundert, Fünfzig und Zehn. Und diese halfen ihm, aber sie berieten ihn nicht und er suchte auch nicht ihren Rat. Was machte Moses plötzlich zu einem Friedensstifter, einem Mann, der den Konsens sucht?

Das ist das eine Problem. Das andere ist der Rat, den Gott selbst gegeben hat: Führe von vorn, auch gegen ihren Willen. Aber so hat Gott selbst nach dem Verständnis der Weisen nicht gehandelt. Das ist es, was sie zu den Worten unmittelbar vor der Erschaffung der Menschheit sagten: „Lasst uns den Menschen nach unserem Bilde schaffen“:

„Lasst uns den Menschen schaffen“: Hieraus lernen wir die Demut des Heiligen, gepriesen sei Er. Da der Mensch nach dem Ebenbild der Engel geschaffen wurde und sie ihn beneiden würden, beriet Er sich mit ihnen…

Obwohl sie [die Engel] Ihm bei Seiner Schöpfung nicht geholfen haben und es den Ketzern die Gelegenheit bietet, sich aufzulehnen (den Plural als Grundlage für ihre Irrlehren misszuverstehen), zögerte die Schrift nicht, das richtige Verhalten und den Charakterzug der Demut zu lehren, dass eine große Person sich mit einer kleineren beraten und von ihr die Erlaubnis erhalten sollte.

Die Weisen, die sich über den Plural „Lasst uns den Menschen schaffen“ wunderten, interpretierten ihn so, dass Gott sich mit den Engeln beriet. Obwohl die Verwendung des Wortes „uns“ gefährlich war – es könnte als Kompromittierung des reinen Monotheismus des Judentums ausgelegt werden -, ist das Prinzip der Konsultation so wichtig, dass die Tora das Risiko einer Fehlinterpretation in Kauf nimmt. Gott berät sich, so die Weisen: „Gott handelt nicht tyrannisch gegenüber seinen Geschöpfen.“

Sicher, die Weisen sagten, dass Gott am Sinai den Berg über den Köpfen der Israeliten hielt und sagte: „Wenn ihr Nein sagt, wird dies euer Grab sein.“ Aber das ist nicht der einfache Sinn des Verses. Im Gegenteil: Bevor er Israel die Tora gab, befahl er Moses, dem Volk zu erklären, was er vorhatte (Exod. 19:4-6). Und erst als das Volk – „das ganze Volk zusammen“ (Exod. 19:8) „mit einer Stimme“ (Exod. 24:3) – dazu bereit war, wurde der Bund geschlossen. Das ist die biblische Grundlage für die Idee in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, dass Regierungen ihre Autorität aus der „Zustimmung der Regierten“ beziehen. Die Tatsache, dass Gott den Menschen Freiheit gibt, bedeutet, dass er uns niemals gegen unseren Willen zwingt. Wie Eisenhower einmal sagte: „Menschen auf den Kopf zu schlagen, ist nicht Führung, sondern eine Handgreiflichkeit“. Warum also hat Gott hier für sich eher untypisch gesprochen?

Die Antwort, so scheint mir, ist diese: Sowohl Gott als auch Moses wollten Josua zu verstehen geben, dass wahre Führung keine einseitige Angelegenheit sein kann, sei es das Streben nach Konsens oder nach Befehl und Kontrolle.  Es muss eine geschickte Balance aus beidem sein. Sie wollten, dass Josua dies auf besonders eindringliche Weise erfährt, und so sagte jeder von ihnen das, was man am wenigsten von ihm erwartete.

Moses, den jeder mit starker, entschlossener Führung assoziierte, sagte zu Josua: „Vergiss nicht, dich um einen Konsens zu bemühen. Deine Aufgabe ist nicht die gleiche wie meine. Ich musste die Menschen aus der Sklaverei befreien. Du musst sie in ein Land der Freiheit führen. Freiheit bedeutet, die Menschen ernst zu nehmen. Zur Führung eines freien Volkes gehört es, zuzuhören, zu respektieren und einen Konsens anzustreben, wo immer es möglich ist.“

Gott, der den Menschen ihre Freiheit gegeben hat und sie nie gegen ihren Willen dominierte, sagte: „Josua, ich bin Gott, nicht du. Ich muss die Freiheit der Menschen respektieren. Ich muss sie den Weg gehen lassen, den sie zu gehen entschlossen sind, auch wenn dieser falsch und selbstzerstörerisch sein mag. Aber du bist ein Mensch unter Menschen, und es ist deine Aufgabe, ihnen den Weg zu zeigen, der zu Gerechtigkeit, Mitgefühl und einer guten Gesellschaft führt. Wenn die Menschen nicht mit dir übereinstimmen, musst du sie lehren, sie überzeugen, aber letztlich musst du sie führen, denn wenn jeder das tut, was er allein für richtig hält, ist das nicht Freiheit, sondern Chaos.“

Kurzum, Führung ist nicht einfach. Sie ist komplex, weil sie mit Menschen zu tun hat, und Menschen sind komplex. Man muss zuhören, und man muss führen. Man muss sich um einen Konsens bemühen, aber wenn es keinen gibt, muss man letztlich das Risiko eingehen, eine Entscheidung zu treffen. Hätten sie auf einen Konsens gewartet, hätte Lincoln nie die Sklaverei abgeschafft, Roosevelt und Churchill hätten die freie Welt nie zum Sieg geführt und Ben Gurion hätte nie den Staat Israel ausgerufen.

Es ist nicht die Aufgabe von Führungskräften, den Menschen zu geben, was sie wollen. Es ist ihre Aufgabe, den Menschen beizubringen, was sie wollen sollten. Gleichzeitig müssen sie die Menschen aber auch in den Entscheidungsprozess einbeziehen. Schlüsselfiguren und Beteiligte müssen das Gefühl haben, dass sie konsultiert wurden. Eine kooperative, beratende und zuhörende Führung ist in einer freien Gesellschaft unerlässlich. Andernfalls kommt es zu einer Autokratie, der sich nur das gelegentliche Attentat entgegenstellt.

Führungspersönlichkeiten müssen Lehrer, aber auch Lernende sein. Sie müssen Visionäre sein und dennoch Zeit für die Details haben. Sie müssen die Menschen anspornen, aber niemals zu weit oder zu schnell, sonst werden sie scheitern. Sie müssen sich an die bessere Seite unseres Wesens wenden und uns lehren zu lieben, statt zu hassen, zu vergeben, statt Rache zu üben. Sie müssen immer die friedliche Lösung derjenigen vorziehen, die darin besteht, einen Stock zu nehmen und Menschen auf den Kopf zu schlagen, auch wenn sie dazu bereit sind, wenn es keine Alternative gibt. Führungskräfte müssen zu mehr als einem Führungsstil fähig sein. Andernfalls gilt, was Abraham Maslow sagte: „Wer nur einen Hammer hat, behandelt jedes Problem, als wäre es ein Nagel.“

In Anbetracht der Mühe, der Energie, des Stresses und des Schmerzes wäre es ein Rätsel, warum jemand eine Führungsrolle anstreben sollte, gäbe es da nicht diese leuchtende Wahrheit: dass es keinen besseren Weg gibt, das Leben mit Sinn zu erfüllen, als andere aufzurichten und ihnen zu einer Größe zu verhelfen, von der sie selbst nicht wussten, dass sie ihrer fähig sind; gemeinsam mit anderen einige Fehler dieser verletzten Erde und ihrer Geschöpfe zu korrigieren; zu handeln, anstatt darauf zu warten, dass andere handeln, und andere mitzunehmen, denn auch der größte Führer auf Erden oder im Himmel kann nicht allein führen.

Das macht die Führungsrolle zu dem größten Privileg, mit dem jeder von uns gesegnet werden kann. Wie Moses zu Josua sagte: „Glücklich bist du, dass du es verdient hast, die Kinder Gottes zu führen.“ Die Krone der Führerschaft ist unsichtbar, und doch weiß man, wer sie trägt und wer nicht. Sie ist da, vor dir, und wartet darauf, dass du sie aufsetzt. Trage sie mit Stolz, und möge alles, was du tust, gesegnet sein.

  1. Welchen Rat zur Führung erhielt Josua von Moses?
  2. Warum denkst du, dass es für eine Führungsperson wichtig ist, ihren Anhängern das Gefühl zu geben, dass sie gehört werden (auch wenn ein Konsens unwahrscheinlich ist)?
  3. Inwiefern ist das Führungsmodell von Moses mit einem demokratischen Regierungssystem vergleichbar?

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