Jan ‍‍2014 - תשעד / תשעה

Keine krummen Dinger

MORAL

Warum ein religiöser Mensch unbedingt auch rechtschaffen sein muss
Religiöse Juden, die Steuern hinterziehen und betrügen – auf dieses Thema wurde ich schon des Öfteren angesprochen. Es erinnert mich an die Anekdote von den zwei Juden, die in einem Wirtshaus aus Platzmangel im selben Zimmer untergebracht werden. Als sie am späten Abend die Gaststube gemeinsam verlassen, bückt sich der eine von ihnen und hebt die Brieftasche auf, die dem anderen unbemerkt hinuntergefallen ist, und gibt sie ihm zurück.

In derselben Nacht verschwindet die Brieftasche, und auch nach gründlicher Suche ist sie nicht zu finden, sodass die Polizei eingeschaltet werden muss. Zu aller Erstaunen ist der Mitbewohner der Dieb! Doch er erklärt achselzuckend: »Was ist da so verwunderlich? Ich bin ein gläubiger Jude. Fundgegenstände zurückzugeben, ist eine Mizwa, ein Gebot der Tora, daran muss ich mich halten. Aber stehlen – das ist einfach mein Beruf!«

Natürlich handelt es sich hier um eine Absurdität, denn sowohl das Zurückerstatten von Fundgegenständen als auch das Verbot zu stehlen sind Gebote der Tora. Beide kommen in unserem Wochenabschnitt vor (2. Buch Mose 21,37 – 22,8 und 23,4) sowie an anderen Stellen der Tora (3. Buch Mose 19,11 und 5. Buch Mose 22,1-3).

GERADLINIG Dasselbe Prinzip gilt ganz allgemein für die Rechtschaffenheit und Geradlinigkeit eines Menschen: Beides ist von der jüdischen Religion in der schriftlichen und mündlichen Lehre bis ins Detail vorgeschrieben. Wer sich also nicht nach ihnen richtet, handelt nicht nur ungesetzlich und unmoralisch, sondern auch unreligiös! Wer lügt und betrügt, verstößt direkt gegen die Vorschriften G’ttes.

Es kommt somit einem inneren Widerspruch gleich, von religiösen Menschen zu sprechen, die betrügen. Denn zumindest in diesem Bereich handeln sie gegen die Religion, auch wenn sie in anderen Bereichen der Religion entsprechend leben. (Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass es sowohl in als religiös als auch in als säkular bezeichneten Gruppierungen rechtschaffene und andere Menschen gibt. Nur dass sich als religiös bezeichnende Betrüger stärker auffallen – wegen dieses zusätzlichen inneren Widerspruchs zur Religion.)

Die Verbindung zwischen Religion und dem Prinzip der Rechtschaffenheit ist noch viel stärker und bedarf weiterer Vertiefung: Ganze Abschnitte in der Tora – wie unser Wochenabschnitt Mischpatim (»Rechtsgesetze«) oder Schoftim und Ki Teze – befassen sich überwiegend mit dem jüdischen Rechtssystem. Aber auch viele andere Stellen in der Tora sowie ein gewichtiger Teil des Talmuds – zum Beispiel die Traktate Naschim (Ehegesetze) und Nesikin (Schadensgesetze) – sind diesem Thema gewidmet.

Dabei stellt sich die Frage: Was hat die juristische Regelung des Alltags mit Religion und G’ttesdienst zu tun? Von der Tora erwarten wir eher die Anleitung, wie der Mensch eine Verbindung zu G’tt herstellen kann: etwa durch Gebete, Opfergaben, das Anlegen von Tefillin und Zizit oder das Anbringen der Mesusa. Der detaillierte Aufbau eines strukturierten Rechts und die verschiedenen juristischen Fragen aber gehören doch in den Bereich des weltlichen und staatlichen Lebens. Warum erfahren sie in der Tora, der schriftlichen und mündlichen Lehre, eine solche Beachtung?

GERECHTIGKEIT Im 5. Buch der Tora heißt es: »… denn alle seine Wege sind Recht; ein G’tt der Treue und ohne Trug, gerecht und gerade ist Er« (32,4). G’tt ist Gerechtigkeit, ihr Ursprung, ihre Definition! Möchte sich der Mensch G’tt nähern, dann kommt er um diese Eigenschaft G’ttes genauso wenig herum wie um Seine Güte und Seinen Langmut.

Um diesen Zusammenhang zu verstehen, schauen wir uns Vers 22 im 5. Buch Mose 11 an: »Denn wenn ihr dieses ganze Gebot haltet, das Ich euch befehle, es zu tun, den Ewigen, euren G’tt, zu lieben, in all seinen Wegen zu gehen und sich an Ihn zu heften …«

Was bedeutet es, in G’ttes Wegen zu gehen? Dazu erklärt Raschi: »Er ist barmherzig, auch du sei barmherzig, Er ist wohltätig, auch du sei wohltätig!« G’tt ist der Ursprung aller guten Eigenschaften; in Seinen Wegen zu gehen, heißt, sich an Seine Eigenschaften zu heften (Talmud Ketubot 111b). Dies führt uns zur Interpretation Ibn Esras: Der Mensch werde sich durch das Aneignen der Eigenschaften G’ttes schließlich an Ihn heften.

Nun können wir den Zusammenhang verstehen: Recht zu lernen und Gerechtigkeit zu üben ist keine rein weltliche Angelegenheit. Mit ihnen bietet sich dem Menschen die Möglichkeit, sich an G’tt zu »heften«, denn die Gerechtigkeit ist eine der Eigenschaften G’ttes! Hierbei handelt es sich um eine religiöse Angelegenheit, die eine Verbindung zu G’tt schafft, ebenso wie das Gebet oder der Opferdienst, wenn nicht sogar noch mehr – wie geschrieben steht: »Recht und Gerechtigkeit auszuüben ist dem Ewigen vorzüglicher als Opfer« (Sprüche 21,3).

FORDERUNGEN Überdies gehört die Gerechtigkeit zu den fundamentalen Forderungen G’ttes an den Menschen: »Er hat dir kundgetan, o Mensch, was gut ist; und was forderte der Ewige von dir, als Recht zu üben, Liebe zu üben und demütig vor deinem G’tt zu wandeln« (Micha 6,8). Die Gerechtigkeit ist eine der drei Säulen der Welt: »Auf drei Dingen basiert die Welt: auf der Wahrheit, auf dem Recht und auf dem Frieden« (Sprüche der Väter 1,18).

Recht und Gerechtigkeit sind weit mehr als ein rein weltliches, juristisch begrenztes Gebiet, mehr als eine nun einmal notwendige Einrichtung, um in der menschlichen Gesellschaft Ordnung zu bewahren. Sie sind der Welt ein Fundament und der Religion eine Basis! Durch Recht wird Zion erlöst werden (Jeschajah 1,27), Recht und Gerechtigkeit wird der Weg G’ttes genannt (1. Buch Mose 18,19), sie sind ein Grund, dem Menschen Leben zu schenken (Jecheskel 33,16). Zahlreiche weitere solcher Quellen lassen sich noch anführen, doch kann man sie zusammenfassend auf einen Nenner bringen: Recht ist eine g’ttliche Eigenschaft. Sich mit dem Recht eingehend zu befassen, es sich anzueignen und auszuüben, verbindet den Menschen mit G’tt.

Nach dieser Ausführung bleibt noch anzufügen, dass die Ausgangsfrage grundsätzlich von einer falschen Annahme ausging. Das Leben kann vom jüdischen Standpunkt aus nicht, wie in der Frage angenommen und vorausgesetzt wird, in weltliche und in religiöse Bereiche unterteilt werden. Das Judentum ist keine Teil- oder Freizeitbeschäftigung, vielmehr betrifft und umfasst es das ganze Leben! G’tt gibt durch die Tora dem Menschen die Anleitung, wie ein g’ttgewolltes Leben bis in all seine Einzelheiten aussieht. In diesem Sinne ist jeder Moment des Daseins dazu vorgesehen, »religiös« erlebt zu werden.