Sep ‍‍2016 - תשעו / תשעז

JUSTIZ

»Du sollst nicht parteiisch sein«
Gleichheit vor dem Gesetz wurde erstmals in der Tora
Der Wochenabschnitt Schoftim führt in die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des jüdischen Staatssystems ein. Der Text spricht über Richter, Beamte, Rechtsverfahren, das König- und das Priestertum. Danach werden mehrere soziale, kultische und zivile Regeln und Vorschriften erwähnt, unter anderem über die Kriegsführung – jetzt gerade wieder wegen des Gazakonflikts sehr aktuell.

Ein Punkt ist dabei von zentraler Bedeutung für die soziale Ordnung der jüdischen Gesellschaft: Gerechtigkeit – wie es in der Tora (5. Buch Mose 16, 18–20) geschrieben steht: »Du sollst Richter und Beamte in allen Städten ernennen …, und sie sollen die Menschen mit einem gerechten Urteil richten. Du sollst nicht Gerechtigkeit pervertieren, nicht parteiisch sein und keine Bestechung akzeptieren …, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, sollst du verfolgen.«

WACHEN Rabbi Jeschaja Hurwitz (1560– 1630), einer der großen Toragelehrten seiner Zeit, übersetzt den ersten Vers der Parascha wortwörtlich, wo es auf Hebräisch heißt »bechol schearecha«. Während dies üblicherweise mit »in allen euren Städten« übertragen wird, schreibt er »in all deinen Toren«. Rabbiner Hurwitz meint damit, dass diejenigen, die danach streben, gerecht zu sein, symbolisch gesprochen Wächter an den Toren ihrer Seelen aufstellen müssen, die ihre Münder bewachen, damit sie nicht lügen oder üble Nachrede verbreiten; und an den Ohren, damit sie sich nicht begierig üble Nachrede anhören; und an den Augen, damit sie sich nicht daran gewöhnen, im anderen nur das Schlechte zu sehen.

Verschiedene Kommentatoren weisen auch darauf hin, dass der hebräische Begriff »tirdof«, also »verfolgen«, »nachjagen« (in 5. Buch Mose 16,20 »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, sollst du verfolgen«), Mühe und Eifer impliziert. Es genügt also nicht, Gerechtigkeit einfach zu respektieren oder zu befolgen, sondern sie muss aktiv vorangetrieben werden.

Rabbiner Simcha Bunem von Przysucha (1765–1827), ein chassidischer Wanderprediger in Polen, ist der Ansicht, dieser Vers lehre uns, dass die Gesellschaft auf gerechte Art und Weise zu Gerechtigkeit kommen muss. Man darf keine ungerechten Mittel anwenden, um ein gerechtes Ziel zu erreichen.
Königreich Alle Vorschriften, die hier erwähnt werden – und ganz grundsätzlich alle Ge- und Verbote im Judentum –, haben das Ziel, das jüdische Volk seiner Bestimmung näherzubringen, ein »Königreich von Priestern« zu sein, also näher an G’tt zu sein, indem die Menschen das Richtige tun, also richtig handeln. Da niemand über G’tt steht (oder nicht einmal ansatzweise gleichwertig ist), muss jeder diese Regeln einhalten, egal, welchen Hintergrund er hat.

VERFASSUNG Das macht das Judentum zu einer sehr modernen und demokratischen Religion, da jeder gleich ist vor G’tt und die Tora wie die Verfassung eines modernen Staates funktioniert, mit verschiedenen Rechten und Pflichten für alle.

Daher hat selbst ein König oder eine Königin keine absolute Macht, auch wenn die Monarchie in unserem Wochenabschnitt nicht ausdrücklich erwähnt wird. Er oder sie (ja, Israel hatte nicht nur Könige, sondern auch zwei Königinnen: Athaliah und Schlomzion) wird vom Volk gewählt, und bestimmte Verwaltungsbefugnisse werden vom Volk wahrgenommen.

Selbst ein Monarch soll bescheiden leben (zum Beispiel darf er nicht zu viele Ehefrauen oder zu viel Gold und Silber haben), muss die Tora lernen und die Mizwot halten wie jeder andere Jude auch (vgl. 5. Buch Mose 17, 15–20). Der Grund dafür ist, dass der König oder die Königin von G’tt auserwählt ist. Das gibt ihm nicht nur einen besonderen Titel, Autorität und Privilegien, sondern auch eine besondere Verantwortung.

Wird er dieser Verantwortung nicht gerecht, kann er kritisiert werden – und das nicht nur in der Theorie. Zahlreiche Propheten haben Könige kritisiert, teilweise aufs Schärfste. Wenn ein Monarch sündigt, wird er auch bestraft – wie beispielsweise im Fall von König Ahab und König David. Auch ist die Monarchie eine durchaus umstrittene Regierungsform. Der Prophet Schmuel versucht, sie zu verhindern, die rabbinische Literatur steht ihr teilweise sehr kritisch gegenüber, und auch spätere Kommentatoren wie Abarbanel lehnen sie ab.

SANHEDRIN Gerechtigkeit wird aber nicht nur durch die Propheten garantiert. Die bereits erwähnten Richter und Beamten organisierten die lokale Verwaltung und Rechtsprechung, während der Sanhedrin, das höchste Gericht, die letzte Instanz war, nicht nur für religiöse Dinge, sondern auch in Fragen des Zivilrechts. Der Sanhedrin entschied auch über die Hohepriester im Tempel.

Dieses System garantierte eine Gewaltenteilung zwischen weltlicher, religiöser und richterlicher Macht – niemand hatte zu viele Befugnisse oder stand über dem Gesetz. Dieses Prinzip hat nicht nur das jüdische Volk stark darin beeinflusst, die Vision von einer gerechten Gesellschaft zu verfolgen. Dieses Prinzip ist mittlerweile ein universelles Ideal geworden. Doch kein anderes Volk schätzt die Gerechtigkeit derart wie die Juden, wahrscheinlich auch als Folge der Geschichte des jüdischen Volkes als ausgegrenzte und diskriminierte Minderheit.

Bachia Ben Ascher betont (in seinem Kommentar zum 5. Buch Mose 16,20): »Gerechtigkeit: ob es zu deinem Gewinn oder Verlust ist, egal ob in Wort oder Tat, ob bezüglich eines Juden oder eines Nichtjuden; und verwende keine unlauteren Mittel, um Gerechtigkeit zu erreichen.« Genau das muss immer noch, auch heute, unsere Maxime bleiben: Jeder soll gleich und fair behandelt werden, unabhängig davon, ob wir ihn mögen, unabhängig davon, wie wichtig oder unwichtig er in unserer Gemeinde ist, unabhängig davon, ob reich oder arm. Damit der Satz von Heinrich Heine seine Gültigkeit behält: »Seit der Zeit Abrahams wird Recht mit einem hebräischen Akzent gesprochen.«
Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 28.04.2014