Okt ‍‍2015 - תשעה / תשעו

GOTTES BITTE

Zweifellos
Warum Abram Gottes Bitte befolgte und in ein fremdes Land aufbrach

Viele von uns beschäftigt die Frage, wo die Grenze unseres Glaubens liegt. Wandelt sich der Gläubige in einen Gehorchenden, oder muss er seinen Weg genau prüfen, um ihn annehmen zu können?
Als Abram noch im Ausland war, sprach ihn Gott mit dem bekannten Ruf „Geh aus deinem Vaterland“ an. Jeder, der die Tora liest, erkennt, dass Gott sich an Abram wandte, um von ihm zu verlangen, sein Land, seine Heimat und sein Zuhause zu verlassen und in ein unbekanntes Land, „in ein Land, das ich dir zeigen will“, zu gehen, nämlich Kanaan, das heutige Eretz Israel. In diesem Land wird einem neuen Volk der Beginn seiner Entwicklung ermöglicht, den Nachkommen Abrams. Den heutigen Betrachter überrascht es, dass Abram sofort bereit war, Gottes Willen auszuführen und alles hinter sich ließ, um in eine ungewisse Zukunft zu gehen.
Ist Abram voreilig dazu bereit, Gottes Ruf nachzugehen? Oder erwartet Gott, dass Abram in blindem Glauben auf jeden Ruf positiv reagieren wird? Dieses Thema stellt ein großes Fragezeichen über unsere gesamte Beziehung zu Gott: Dürfen wir unseren Glauben an Gott hinterfragen? Müssen wir immer nachforschen, ob das, was von uns verlangt wird, eindeutig göttlich ist? Und ist das, was wir als Gottes Taten betrachten, verständlich genug? Widerspricht nicht das Verständnis des Men- schen dem Glauben?
Es scheint oberflächlich betrachtet so zu sein, dass Gott einen absolut blinden Glauben von Abram verlangt. Gott weist an, und Abram führt aus. Er fragt nicht und versucht auch nicht zu verstehen. War es wirklich so?
Bereits am Ende des vorangegangenen Wochenabschnitts (1. Buch Moses 11, 27-32) bekamen wir etwas Auskunft über das Leben Abrams. Die Tora berichtet darüber, dass Abram mit seiner ganzen Familie – seinem Vater Terach, seiner Frau Sarai und seinem Neffen Lot – auf die Reise in Richtung Kanaan geht! Die gesamte Familie verlässt Ur in Chaldäa und macht unterwegs Halt in Haran, wo Terach stirbt. Von dort setzt Abram seine Reise nach Kanaan fort. Die Bekanntschaft mit Gott begann also nicht damit, dass Gott „Geh aus deinem Vaterland“ befahl, sondern lange vorher. Aber wann eigentlich? Die früheren Weisen schlugen einige Erklärungen vor. Die erste Erklärung war, dass Abram Gott bereits mit drei Jahren kannte. Abram schlussfolgerte, als er die Welt betrachtete, dass selbst Sonne und Mond einen Lenker brauchten, um zu wissen, wann sie untergehen sollen. Abram verstand, dass es eine Kraft in der Welt gibt, die alles steuert. Die zweite Erklärung ist, dass Abram den Schöpfer mit 48 Jahren kennenlernte, zu der Zeit, als die Menschen den Turm von Babel bauten. Doch was passierte zwischen dem dritten Lebensjahr – oder eben dem 48sten – und dem Augenblick, als Abram als 75-Jähriger Gottes Ruf erhielt, alles hinter sich zu lassen und zu gehen? Plante Abram seinen Gang nach Kanaan bereits vor dem Ruf „Lech Lecha, geh aus deinem Vaterland“?
Der Glaube entsteht nicht in einem Augenblick. Wir können sogar feststellen, dass ein Glaube, der in einem Augenblick entsteht, ebenfalls in einem Augenblick verschwindet. Im Laufe der Jahre, ganz allmählich, lernt Abram, wer sein Gott ist. Er macht einen Lernprozess durch, um einen Kontakt aufzubauen, der auf Glauben basiert und der nicht plötzlich abreißen kann. Ein Kontakt, der es ermöglicht, dem Partner Gott „in Feuer und in Wasser“ zu folgen. Die früheren Weisen erzählten, dass sich Abram in diesem Zeitraum intellektuell und emotionell mit anderen Glaubensformen auseinandersetzte, die damals in der Welt herrschten. Gott wandte sich erst an ihn, nachdem der Glaube in seinem Herzen entstanden war und er wusste, wer der König der Welt ist. Erst dann konnte Abram einen neuen Weg gehen, einen Weg der Bildung eines neuen Volkes, dessen Weg von Gott geebnet wird. Wenn wir die Geschichte so betrachten, verstehen wir, warum Abrams Kontakt zu Gott schon lange vor dem Ruf „Lech Lecha“ bestand.
Die Tora erklärt, dass es zwei wichtige Komponenten des menschlichen Glaubens an Gott gibt. Zum einen muss eine tiefe Klärung darüber stattfinden, wer der Gott ist, der vor uns steht und die Welt führt. Die Betrachtung der Wundertaten der Schöpfung und der Natur, die Betrachtung des menschlichen Körpers, die Erkenntnis, dass alles „von oben“ gesteuert wird, führen zum Glauben. Das Lernen der Tora, der Sitten und der Art der Offenbarung Gottes in der Welt und die gleichzeitige Anerkennung, dass Gott keinen Körper besitzt, und dass er einzigartig ist, bringen den Menschen zu einer rationalen Erkenntnis über den Gott, an den er glaubt, seine Kraft und wie er sich in der Welt offenbart.
Parallel dazu geht der Mensch durch einen emotionalen Prozess, in dem sein Vertrauen wächst, mit Gott zu kommunizieren. Alles was er rational wahrgenommen hat, wandelt sich in Emotionen um. Der Glaube soll ein Niveau erreichen, auf dem alles, was der Mensch rational wahrnimmt und was er fühlt, eins ist. Genauso verlangen wir von einem Kind, dass es die Bedeutung der Wörter „Mutter“ oder „Vater“ nicht im Wörterbuch suchen muss, weil die Begriffe vom Verstand her bekannt und emotional geprägt sind. So verlangt die Tora, dass der Gläubige, nachdem er die rationale Aufbauphase des Glaubens beendet hat, die Begriffe verinnerlicht und eine Verbindung zwischen seinem Wissen von Gott und seinen Gefühlen Ihm gegenüber herstellen wird.
Abram erreichte die Phase des vollkommenen Glaubens, in der er alle göttlichen Bitten ohne zu hinterfragen akzeptierte, erst, nachdem ihm im Laufe der Zeit klar geworden war, wie tief seine Beziehung zu Gott ist. Diese Beziehung von Glauben und Vertrauen bedeutet, dass jede Bitte gänzlich erfüllt wird, weil Abram keinen Zweifel hat, dass Gott von ihm etwas Widersinniges verlangen wird.
Der Weg Abrams zeigt uns, dass jeder Mensch in jedem Alter Gott kennenlernen kann, wenn er nach der Wahrheit über den Herrscher der Welt sucht. Er kann Gott kennenlernen und den Glauben erreichen, sowohl intellektuell als auch emotional. Er wird dann zum unzertrennlichen Bestandteil seines Lebens.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 18.10.2007