Dez ‍‍2009 - תשסט / תשע

Glückes Geschick

Im Wochenabschnitt Schlach wird uns über die Sünde der Meraglim berichtet, der jüdischen Spione, die in das Land Israel geschickt wurden, um das Gebiet zu erkunden. Es waren zwölf Prinzen. Von jedem Stamm wurde aus der Generation der Wüstenwanderung eine der wichtigsten Persönlichkeiten ausgewählt. Eigentlich, sagen die Weisen, sollte diese Aktion dem Zweck dienen, das verängstigte Volk zu beruhigen und ihm die Angst zu nehmen, ins Heilige Land zu ziehen. Doch das Ganze nahm ein fatales Ende. Zehn der zwölf Prinzen äußerten sich negativ über das Land und nahmen damit dem jüdischen Volk jegliche Lust an der Einwanderung. Die Menschen begannen zu weinen. Dieses Weinen hat uns über so viele Generationen so viel Leid gebracht. Weil wir an dem Tag unnötig geweint hätten, sagte der Allmächtige damals, werde Er uns für die kommenden Generationen Grund zum Weinen geben. Jener Tag war der neunte Av, der größte Trauertag in der jüdischen Geschichte, an dem so viel Unglück über uns hereingebrochen ist.

Es ist aber bemerkenswert, dass am Ende des Wochenabschnitts eine andere, nicht weniger berühmte Passage der Heiligen Schrift zu finden ist, nämlich der dritte Teil des Schma Jisrael. Er handelt von dem Gebot, an den Ecken der Kleider Zizit, Schaufäden, zu tragen, damit wir uns ständig an alle Gebote erinnern. Jeder, der diesen Toraabschnitt lernt, sollte sich die Frage stellen: Was ist die Verbindung zwischen den beiden Passagen? Warum hat es der Allmächtige als notwendig empfunden, diese Abschnitte nebeneinander und in derselben Parascha stehen zu lassen, obwohl auf den ersten Blick keine wirkliche Verbindung zwischen ihnen besteht?

ERKUNDUNG

Wenn zwei oder mehrere Themen in einem Wochenabschnitt vorkommen, dann sagen unsere Weisen: Es muss zwischen diesen Themen eine tiefere Verbindung geben. Bei näherer Betrachtung unseres Textes fällt auf, dass die Tora in beiden Abschnitten das gleiche Wort benutzt: »latur«. Der Wortstamm ist »tur« und ähnelt einem Wort, das uns sehr bekannt vorkommt, nämlich »Tourismus«. Und so steht am Anfang des Wochenabschnitts: »Schlach lecha anaschim latur et haaretz.« Übersetzt wird das mit »Sende für dich Männer, um das Land zu erkunden.« Hier wird »latur« mit »erkunden« übersetzt. Also genauso wie jeder Tourist, der ein ihm unbekanntes Land erkundet, sollten die Meraglim das Land Israel erkunden und dem jüdischen Volk ihre Eindrücke mitteilen.

Im dritten Abschnitt des Schma Jisrael wird dieses Wort aber in einem etwas anderem Kontext verwendet. Dort steht: »Welo taturu acharej lewawchem weacharej ejnejchem.« Gewöhnlich wird dies mit »und folgt nicht euren Herzen und euren Augen« übersetzt. Im Kontext heißt es dort, dass wir uns beim Anblick der Schaufäden an alle Gebote erinnern, sie erfüllen und nicht unseren Herzen und Augen folgen sollen, die uns von dem richtigen Weg abbringen können. Man kann fragen: Wieso steht dort, dass wir nicht unseren Herzen und unseren Augen folgen sollen? Es wäre viel logischer, die Reihenfolge zu ändern, denn zuerst sehen wir, und erst danach verinnerlichen wir das Gesehene. Also sollte die Tora der einfachen Logik nach schreiben: »Und folgt nicht euren Augen und euren Herzen.«

Von hier lernen unsere Weisen eine wichtige Regel: Man sieht das, was man sehen will. Sehr oft kann man dieselbe Tatsache, aus verschiedenen Perspektiven betrachten und auch in viele verschiedene Richtungen hin interpretieren. Manchmal sind wir voreingenommen und nicht neutral in unserer Betrachtungsweise. Dann ist klar, wie wir diese Angelegenheit sehen werden, denn im Herzen haben wir uns schon längst eine Meinung darüber gebildet. Und egal was wir sehen, wir werden gemäß unserer vorher gefassten Meinung darauf reagieren. Die Tora lehrt uns, dass diese Einstellung falsch ist. Wir sollen uns die Zizit anschauen und uns daran erinnern, dass es eine objektive Wahrheit gibt. Mit unserer subjektiven Meinung liegen wir sehr oft daneben, gerade weil wir als Menschen sehr oft voreingenommen und subjektiv sind.

VOREINGENOMMEN

Kommen wir zu der Geschichte der Meraglim zurück. Die Weisen sagen, dass alles, was die Spione über das Land berichtet haben, der Wahrheit entsprochen hat. Doch wenn das so ist, warum wurden sie dann so hart bestraft? Sie wurden dafür bestraft, dass sie voreingenommen in das Land gegangen sind. Die Kommentatoren sagen uns: Die Prinzen hatten Angst davor, ihre hohe Position im Volk zu verlieren, wenn das jüdische Volk ins Heilige Land gezogen ist. Deshalb wollten sie nicht in das Land Israel einziehen. Dementsprechend haben sie auch die von ihnen gesehenen Ereignisse interpretiert und dem jüdischen Volk dargestellt. Und obwohl sie von Tatsachen berichtet haben, die wirklich stattgefunden hatten, war ihre Betrachtungsweise falsch. Für diese Subjektivität wurden sie so hart bestraft. Das könnte die Verbindung zwischen den beiden Abschnitten sein. Die Lehre, die wir daraus ziehen können, wäre, dass wir immer die Wahl haben, alles positiv oder negativ zu sehen.

Im Talmud wird eine Geschichte über den berühmten Rabbi Akiwa erzählt. Er begab sich einmal auf eine längere Reise. Als es schon dämmerte, versuchte er in einem Dorf, an dem er gerade vorbeiging, Unterkunft zu finden. Doch keiner der Bewohner war bereit, ihn aufzunehmen. So war er gezwungen, die Nacht auf dem Feld zu verbringen, was damals sehr gefährlich war. Doch Rabbi Akiwa sagte: »Gam sä letowa«, »auch dies ist zum Guten «. Er hatte einen Esel dabei, auf dem er ritt, eine Lampe, damit er nachts die Tora studieren konnte, und einen Hahn, der ihn morgens aufwecken sollte. Doch der Wind löschte das Feuer in der Lampe. Rabbi Akiwa sagte wieder: »Gam sä letowa« und schlief ein. Als er am späten Morgen aufwachte, stellte er fest, dass Hahn und Esel verschwunden waren. Mit den Worten »Gam sä letowa« setzte er seine Reise fort. Als er wieder an dem Dorf vorbeiging, stellte er fest, dass in der Nacht alle Einwohner von Räubern getötet worden waren. Wenn er im Dorf Zuflucht gefunden hätte, wäre er jetzt nicht mehr am Leben. Wenn die Lampe nicht erlöscht und der Esel nicht weggelaufen wäre, hätten die Räuber ihn bestimmt von Weitem bemerkt. Den Hahn hätten sie auch hören können. Das heißt, das all die Ereignisse, die er als »schlecht« hätte interpretieren können, in Wirklichkeit sein Leben gerettet haben.

Wir wissen nicht, warum manches in der Welt geschieht, doch genauso wenig können wir in unserer Subjektivität erkennen, welche der Ereignisse wirklich gut oder schlecht sind und welche uns nur so erscheinen. Jeder von uns hat Probleme, viele von uns leiden. Doch wir müssen verstehen, dass diese Welt kein Paradies ist und auch nicht als solches erschaffen wurde. Viele Prüfungen werden uns gegeben, um uns zu besseren Menschen zu machen und uns zum Wachstum zu verhelfen. Wir wurden in diese Welt als Touristen für eine begrenzte Zeit geschickt. Und wie alle Touristen haben wir die Wahl, diesen Ort positiv oder negativ zu bewerten. Also hängt es von uns selbst ab, wie wir die Geschehnisse betrachten. Wer sich auf die guten Dinge konzentriert (von denen es so viele auf der Welt gibt) und lernt, auch die schlechten positiver zu betrachten, ist weniger anfällig, depressiv zu werden. Es hängt alles von uns ab!

Der Autor ist Assistenzrabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.