Aug ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Gegen den Hass

Ki Tejzej enthält mehr Vorschriften als jede andere Parascha in der Tora, und es ist gut möglich, dass man von dieser verwirrenden Fülle an Details überwältigt wird. Ein Vers sticht jedoch durch eine Aufforderung hervor, die im schieren Widerspruch zu unserer Intuition zu stehen scheint.

Verachte den Edomiter nicht, denn er ist dein Bruder; verachte den Ägypter nicht, denn du warst ein Fremder in seinem Land (Deut. 23:8).

Dies sind zwei unerwartete Gebote. Untersuchen und verstehen wir sie richtig, so sind sie für uns eine wichtige Lektion über die Gesellschaft im Allgemeinen und über Führungsaufgaben im Besonderen.

Zunächst ein allgemeiner Punkt: Die Juden sind mehr und länger als jedes andere Volk der Welt dem Rassenhass ausgesetzt. Deshalb sollten wir doppelt darauf bedacht sein, dass wir uns nicht selbst des Rassismus schuldig machen. Wir glauben, dass Gott jeden von uns, unabhängig von Hautfarbe, Klasse, Kultur oder Glauben, nach Seinem Bilde geschaffen hat. Wenn wir auf andere Menschen aufgrund ihrer Rasse herabblicken, entwürdigen wir die Gottesähnlichkeit und missachten Kawod Habrijot, die Menschenwürde.

Wenn wir jemanden aufgrund seiner Hautfarbe geringschätzen, wiederholen wir die Sünde von Aaron und Miriam: „Miriam und Aaron sprachen gegen Moses wegen der kuschitischen Frau, die er geheiratet hatte, denn er hatte eine kuschitische Frau geheiratet“ (Num. 12:1). Im Midrasch gibt es wohl Auslegungen, die diese Passage anders interpretieren, der vordergründige Sinn ist jedoch, dass sie auf die Frau von Moses herabblickten, weil sie, wie die kuschitischen Frauen im Allgemeinen, eine dunkle Hautfarbe hatte. Somit haben wir hier einen der ersten aufgezeichneten Fälle von Farbvorurteilen. Für diese Sünde wurde Miriam mit Aussatz geschlagen.

Stattdessen sollten wir uns an die wunderschöne Zeile aus dem Hohelied erinnern: „Ich bin schwarz, aber anmutig, ihr Töchter Jerusalems, gleich den Zelten Kedars, gleich den Teppichen Salomons. Starrt mich nicht an, weil ich dunkel bin, denn gebräunt hat mich die Sonne“ (Hohelied 1:5).

Juden können sich nicht darüber beschweren, dass andere ihnen gegenüber rassistisch eingestellt sind, wenn sie sich dessen selbst schuldig machen. „Bessere zuerst dich selbst; dann [versuche], andere zu korrigieren“, sagt der Talmud (Baba Metzia 107b). Der Tanach enthält negative Bewertungen einiger anderer Nationen, aber immer und nur wegen ihrer moralischen Verfehlungen, niemals wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Hautfarbe.

Nun zu Moses’ zwei Geboten gegen den Hass,[1] welche beide überraschen. „Verachte den Ägypter nicht, denn du warst ein Fremder in seinem Land.“ Dies ist außerordentlich. Die Ägypter versklavten die Israeliten, planten ein Programm des langsamen Völkermords an ihnen und weigerten sich dann, sie trotz der Plagen, die das Land verwüsteten, ziehen zu lassen. Wären das nicht Gründe, sie zu hassen?

Gewiss. Aber die Ägypter hatten den Israeliten in einer Zeit der Hungersnot zunächst Zuflucht gewährt. Sie hatten Josef mit seiner Ernennung zum Stellvertreter des Pharaos geehrt. Das Übel, das sie unter „einem neuen König, der Josef nicht kannte“ (Exod. 1:8), an den Hebräern verübten, ging auf die Initiative dieses Pharaos zurück, nicht auf das Volk als Ganzes. Außerdem war es die Tochter desselben Pharaos, die Moses gerettet und ihn adoptiert hatte.

Die Tora macht einen klaren Unterschied zwischen den Ägyptern und den Amalekitern. Letztere waren dazu bestimmt, ewige Feinde Israels zu sein, die Ägypter hingegen nicht. In einer späteren Zeit machte Jesaja eine bemerkenswerte Prophezeiung: Es würde ein Tag kommen, an dem die Ägypter selbst Unterdrückung erleiden würden. Sie werden dann Gott anrufen, der sie retten wird, so wie er die Israeliten gerettet hat:

Wenn sie wegen ihrer Unterdrücker zu Gott schreien, wird Er ihnen einen Retter und Beschützer schicken, und Er wird sie retten. So wird sich Gott den Ägyptern kundtun, und an jenem Tag werden sie Gott anerkennen (Jesaja 19:20-21).

Die Weisheit des mosaischen Gebots, die Ägypter nicht zu verachten, schimmert auch heute noch durch. Hätte das Volk seine früheren Unterdrücker weiterhin gehasst, hätte Moses die Israeliten zwar aus Ägypten herausgeführt, es wäre ihm aber nicht gelungen, Ägypten aus den Israeliten herauszunehmen. Sie wären weiterhin Sklaven geblieben, nicht physisch, sondern psychisch. Sie wären Sklaven der Vergangenheit gewesen, gefangen in den Ketten der Verbitterung, unfähig, die Zukunft zu gestalten. Um frei zu sein, muss man den Hass aufgeben. Das ist eine schwierige, aber notwendige Wahrheit.

Nicht weniger überraschend ist die Forderung von Moses: „Verachte den Edomiter nicht, denn er ist dein Bruder.“ Edom war natürlich der andere Name von Esau. Es gab eine Zeit, in der Esau Jakob hasste und schwor, ihn zu töten. Außerdem erhielt Rebekka vor der Geburt der Zwillinge ein Orakel, das ihr offenbarte: „Zwei Nationen sind in deinem Leib, und zwei Völker werden sich aus deinem Schoße trennen; ein Volk wird stärker sein als das andere, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen“ (Gen. 25:23). Was immer diese Worte bedeuten mögen, sie scheinen darauf hinzudeuten, dass es einen andauernden Konflikt zwischen den beiden Brüdern und ihren Nachkommen geben wird.

Zu einem viel späteren Zeitpunkt, während der Epoche des Zweiten Tempels, sagte der Prophet Maleachi: „‚War nicht Esau Jakobs Bruder?‘, spricht der Ewige. Und doch habe ich Jakob geliebt, Esau aber habe ich gehasst…“ (Maleachi 1:2-3). Noch Jahrhunderte später sagte Rabbi Schimon Bar Jochai: „Es ist eine Halacha [Regel, Gesetz, unumstößliche Wahrheit], dass Esau Jakob hasst.“[2]  Warum heißt uns Moses dann, die Nachkommen Esaus nicht zu verachten?

Die Antwort ist einfach. Esau mag Jakob hassen, aber daraus folgt nicht, dass Jakob Esau hassen soll. Hass mit Hass zu beantworten, bedeutet, sich auf das Niveau des Gegners herabzulassen. Als ich Judea Pearl, den Vater des ermordeten Journalisten Daniel Pearl, in einer Fernsehsendung fragte, warum er sich für die Versöhnung zwischen Juden und Muslimen einsetze, antwortete er mit herzzerreißender Klarheit: „Hass hat meinen Sohn getötet. Deshalb bin ich entschlossen, den Hass zu bekämpfen.“ Wie Martin Luther King Jr. schrieb: „Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben, nur das Licht vermag dies. Hass kann den Hass nicht vertreiben, nur die Liebe vermag dies.“[3]  Oder wie Kohelet sagte: „Es gibt eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden“ (Prediger 3:8).

Es war kein anderer als Rabbi Schimon Bar Jochai, der sagte, dass Esau, als er Jakob zum letzten Mal traf, ihn „mit ganzen Herzen“ küsste und umarmte.[4]  Hass, besonders zwischen Familienangehörigen, ist nicht ewig und unaufhaltsam. Seid immer, so scheint Moses angedeutet zu haben, zur Versöhnung zwischen Feinden bereit.

Die zeitgenössische Spieltheorie – die Lehre von der Entscheidungsfindung – legt dasselbe nahe. Martin Nowaks Programm des „Großzügigen Tit-for-Tat[5] ist eine Erfolgsstrategie in einem Szenario, das als „Gefangenendilemma“ bekannt ist, ein Beispiel, das für die Studie über die Zusammenarbeit zweier Individuen entwickelt wurde. Tit-for-Tat besagt: Verhalte dich zu deinem Gegner zunächst freundlich, dann behandle ihn entsprechend seinem Verhalten dir gegenüber (auf Hebräisch: Mida keneged Mida). Großzügiges Tit-for-Tat hingegen besagt, dass man nicht immer das tun soll, was der andere einem antut, da man sonst in einen gegenseitig zerstörerischen Kreislauf der Vergeltung gerät. Ignoriere (d. h. verzeihe) hin und wieder die letzte schädigende Handlung deines Gegners. Das ist, grob gesagt, was die Weisen meinten, als sie sagten, dass Gott die Welt ursprünglich mit der Eigenschaft der strengen Gerechtigkeit erschaffen hat, aber sah, dass sie so allein nicht überleben konnte. Deshalb band Er das Prinzip des Erbarmens mit ein.[6]

Moses’ zwei Gebote wider den Hass zeugen von seiner Größe als Führungspersönlichkeit. Es ist die einfachste Sache der Welt, ein Führer zu werden, indem man die Kräfte des Hasses schürt. Das ist es, was Radovan Karadzic und Slobodan Milosevic im ehemaligen Jugoslawien taten, und es führte zu Massenmord und ethnischer Säuberung. Das taten die staatlich kontrollierten Medien vor dem Völkermord in Ruanda 1994, indem sie die Tutsi als Inyenzi („Kakerlaken“) bezeichneten. Das ist es, was Dutzende von Hasspredigern heute tun, die oft das Internet nutzen, um Paranoia zu verbreiten und Terrorakte anzustiften. Schließlich war dies die Technik, die Hitler meisterhaft beherrschte, um das schlimmste Verbrechen von Menschen gegen die Menschheit vorzubereiten.

Die Sprache des Hasses ist in der Lage, Feindschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtung und Ethnizität zu schaffen, die seit Jahrhunderten friedlich zusammenleben. Sie war stets die zerstörerischste Kraft in der Geschichte, und selbst das Wissen um den Holocaust hat ihr kein Ende gesetzt, nicht einmal in Europa. Es ist das untrügliche Zeichen toxischer Führung.

In seinem klassischen Werk Leadership unterscheidet James MacGregor Burns zwischen transaktionalen und transformationalen Führungskräften. Erstere richten sich nach den Interessen der Menschen. Letztere versuchen, ihnen den Weg zu höheren Zielen zu weisen. „Transformierende Führung richtet auf. Sie ist moralisch, aber nicht moralistisch. Die Führungspersönlichkeiten engagieren sich für die Menschen, aber auf einer höheren Ebene der Moral; durch die Verflechtung von Zielen und Werten werden sowohl die Menschen als auch ihre Führerschaft auf eine Ebene höherer Prinzipien gehoben.“[7]

Führung auf ihrem höchsten Niveau verändert jene, die sie ausüben, und diejenigen, die von ihr beeinflusst werden. Die großen Führungspersönlichkeiten machen die Menschen besser, gütiger und nobler als sie es sonst gewesen wären. Das war die Leistung von Washington, Lincoln, Churchill, Gandhi und Mandela. Das Paradebeispiel dafür ist Moses, der Mann, der einen nachhaltigeren Einfluss hatte als jeder andere Führer in der Geschichte.

Er tat dies, indem er die Israeliten lehrte, nicht zu hassen. Ein guter Anführer weiß: Hasse die Sünde, aber nicht den Sünder. Vergiss die Vergangenheit nicht, aber lass dich nicht von ihr gefangen halten. Sei bereit, deine Feinde zu bekämpfen, aber erlaube niemals, dich von ihnen definieren zu lassen oder ihnen ähnlich zu werden. Lerne zu lieben und zu verzeihen. Erkenne das Böse an, das die Menschen tun, aber konzentriere dich auf das Gute, das zu tun in unserer Macht steht. Nur so können wir den moralischen Blick der Menschheit schärfen und dazu beitragen, unsere Welt zu erlösen.

[1] Wenn ich hier und an anderer Stelle von „Moses’ Geboten“ spreche, dann meine ich natürlich, dass diese Gebote Moses durch göttliche Weisung und Offenbarung gegeben wurden und er sie so an uns weitergegeben hat. Das ist im tiefsten Sinne der Grund, warum Gott Moses erwählt hat, einen Mann, der wiederholt von sich selbst sagte, er sei kein Mann der Worte. Die Worte, die Moses sprach, waren kamen von Gott. Das, und nur das, verleiht ihnen zeitlose Autorität für das Volk des Bundes.

[2] Sifrej, Bamidbar, Beha’alotecha, 69.

[3] Strength to Love (Minneapolis, Minn., Fortress Press, 1977), S. 53.

[4] Sifrej ad loc.

[5] Im englischen Original: Generous Tit-for-Tat, zu Deutsch: „Großzügiger Schlagabtausch“.

[6] See Rashi, Genesis 1:1, s.v. Bara.

[7] James MacGregor Burns, Leadership (Harper Perennial, 2010), S. 455.