Aug ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Eine Nation von Erzählern

   Howard Gardner, Professor für Pädagogik und Psychologie an der Harvard University, ist einer der großen Denker unserer Zeit. Am bekanntesten ist er für seine Theorie der „vielfachen Intelligenzen“, die besagt, dass es nicht nur eine Sache gibt, die gemessen und als Intelligenz definiert werden kann, sondern viele verschiedene Facetten – was eine Dimension der „Würde des Unterschieds“ ist. Er hat auch viele Bücher über Führung und Kreativität verfasst, darunter eines, das für das Verständnis unseres Wochenabschnitts Ki Tawo von Bedeutung ist: Leading Minds.[1] 

Gardner argumentiert, dass eine Führungspersönlichkeit sich durch die Fähigkeit auszeichnet, eine bestimmte Art von Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, die uns ein Bild von uns selbst vermittelt und einer kollektiven Vision Kraft und Resonanz verleiht. So erzählte Churchill die Geschichte von Großbritanniens unbezwingbarem Mut im Kampf um die Freiheit. Gandhi sprach über die Würde Indiens und den gewaltlosen Protest. Margaret Thatcher sprach über die Bedeutung des Einzelnen gegenüber einem immer stärker werdenden Staat. Martin Luther King Jr. beschrieb den Charakter einer wirklich großen Nation als farbenblind. Geschichten geben der Gruppe eine gemeinsame Identität und Bestimmung.

Auch der Philosoph Alasdair MacIntyre hat die Bedeutung der Erzählung für das moralische Leben hervorgehoben. „Der Mensch“, schreibt er, „ist in seinen Handlungen und Praktiken wie auch in seinen Fiktionen im Wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier“.[2]  Durch Erzählungen lernen wir, wer wir sind und welche Erwartungen an unser Verhalten gestellt werden. „Beraubt man Kinder ihrer Geschichten, bleiben sie orientierungslose, verängstigte Stotterer in ihren Handlungen wie in ihren Worten.“[3]  Zu wissen, wer wir sind, bedeutet größtenteils, die Geschichte oder die Geschichten zu verstehen, von denen wir ein Teil sind.

Die großen Fragen – „Wer sind wir?“, „Warum sind wir hier?“, „Worin besteht unsere Aufgabe?“ – werden am besten durch das Erzählen einer Geschichte beantwortet. Wie Barbara Hardy es ausdrückte: „Wir träumen und tagträumen in Erzählungen, erinnern uns und erwarten, hoffen und verzweifeln, glauben und zweifeln, planen und überdenken, bauen auf und kritisieren, lernen und tratschen, hassen und lieben durch Erzählungen.“[4]  Dies ist von grundlegender Bedeutung, um das Wesen der Tora zu verstehen: nicht als theologische Abhandlung oder metaphysisches System, sondern als eine Reihe miteinander verknüpfter Geschichten, die sich über die Zeit erstrecken, von Abrahams und Saras Reise aus Mesopotamien bis hin zu Moses und den Wanderungen der Israeliten in der Wüste. Im Judentum geht es weniger um die Wahrheit als System als um die Wahrheit in Form einer Geschichte. Jude zu sein bedeutet, ein Teil dieser Geschichte zu sein.

Ein großer Teil dessen, was Moses im Buch Dewarim tut, besteht darin, der nächsten Generation diese Geschichte zu erzählen, sie daran zu erinnern, was Gott für ihre Eltern getan hat, und sie auch an einige der Fehler zu erinnern, die ihre Eltern begangen haben. Moses ist nicht nur der große Befreier, sondern auch der großartige Geschichtenerzähler. Doch was er im Wochenabschnitt Ki Tawo tut, geht weit darüber hinaus.

Er sagt den Israeliten, dass sie, wenn sie das Land betreten, erobern und besiedeln, die ersten reifen Früchte in das zentrale Heiligtum, den Tempel, bringen sollen, um Gott zu danken. Eine Mischna in Bikurim[5] beschreibt die freudige Szene, als die Menschen aus dem ganzen Land nach Jerusalem kamen und ihre Erstlingsfrüchte unter Musik und Feiern darbrachten. Es genügte aber nicht, die Früchte zu bringen. Jede Person musste auch eine Erklärung abgeben. Diese Deklaration wurde zu einer der bekanntesten Passagen in der Tora; obwohl ursprünglich an Schawuot, dem Fest der Erstlingsfrüchte, gesprochen, wurde sie in nachbiblischer Zeit zu einem zentralen Element der Hagada am Sederabend:

Mein Vater war ein wandernder Aramäer, und er zog hinab nach Ägypten und weilte dort in geringer Zahl und wurde dort zu einem großen Volk, mächtig und zahlreich. Die Ägypter aber misshandelten uns und ließen uns leiden, indem sie uns harte Arbeit auferlegten. Da schrien wir zum Ewigen, dem Gott unserer Väter, und der Ewige hörte unsere Stimme und sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrängnis. So führte uns Gott aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, unter großen furchtbaren Taten, unter Zeichen und Wundern (Deut. 26:5-8).

Hier wird zum ersten Mal die Nacherzählung der nationalen Geschichte zur Pflicht für jeden Bürger der Nation. In diesem Akt, der als Widuj Bikurim, „das Bekenntnis über die Erstlingsfrüchte“, bekannt ist, wurden die Juden gleichsam angewiesen, ein Volk von Geschichtenerzählern zu werden.

Dies ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Yosef Hayim Yerushalmi sagt uns, dass „nur in Israel und nirgendwo sonst die Aufforderung, sich zu erinnern, als religiöser Imperativ für ein ganzes Volk empfunden wird“.[6]  In Dewarim wird immer wieder das Gebot des Erinnerns ausgesprochen: „Denke daran, dass du ein Sklave in Ägypten gewesen bist“ (Deut. 5:15; 15:15; 16:12; 24:18; 24:22); „Denke an das, was dir Amalek zugefügt hat“ (Deut. 25:17). „Denke an das, was Gott Mirjam getan hat“ (Deut. 24:9). „Gedenke der Tage der Vorzeit, betrachte die längst vergangenen Generationen. Frage deinen Vater, und er wird es dir erzählen, frage deine Ältesten, und sie werden es dir erklären“ (Deut. 32:7).

Widuj Bikurim ist jedoch mehr als das. Es ist die Kurzfassung der gesamten Geschichte des Volkes, komprimiert auf den kleinsten möglichen Raum. In wenigen kurzen Sätzen haben wir hier „die stammväterlichen Ursprünge in Mesopotamien, die Entstehung der hebräischen Nation mitten in der Geschichte anstatt in der mythischen Vorgeschichte, die Sklaverei in Ägypten und die Befreiung daraus, den Höhepunkt der Inbesitznahme des Landes Israels – und durchweg die Anerkennung Gottes als Regent der Geschichte.“[7] 

Wir sollten hier eine wichtige Nuance beachten. Die Juden waren das erste Volk, das Gott in der Geschichte fand. Sie waren die Ersten, die in historischen Begriffen dachten – die Zeit als einen Schauplatz des Wandels sahen, im Gegensatz zum zyklischen Verständnis der Zeit, nach dem sich die Jahreszeiten abwechseln, Menschen geboren werden und sterben, sich aber nichts wirklich ändert. Die Juden waren die ersten Menschen, die Geschichte schrieben – viele Jahrhunderte vor Herodot und Thukydides, oft fälschlicherweise als die ersten Historiker bezeichnet. Dennoch gibt es im biblischen Hebräisch kein Wort, das „Geschichte“ bedeutet (das nächstliegende Wort ist Diwrej Hajamim, „Chronik“). Stattdessen verwendet es den Wortstamm s-ch-r, der „Erinnerung“ bedeutet.

Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung. Geschichte ist „die Geschichte des Anderen“,[8] ein Bericht über Ereignisse, die irgendwann einmal jemand anderem widerfahren sind. Die Erinnerung ist „meine Geschichte“. Es ist die Vergangenheit, die ich verinnerlicht und zu einem Teil meiner Identität gemacht habe. Das ist es, was die Mischna im Pesachim meint, wenn sie sagt: „Jeder Mensch muss sich selbst so sehen, als ob er (persönlich) aus Ägypten gezogen wäre“ (Mischna Pesachim 10:5).

Nicht weniger als vierzehn Mal warnt Moses das Volk im Buch Dewarim davor, zu vergessen. Vergisst es die Vergangenheit, wird es seine Identität und seinen Orientierungssinn verlieren, und bald wird es das Unheil treffen. Zudem wird dem Volk nicht nur geboten, sich zu erinnern, sondern auch, diese Erinnerung an seine Kinder weiterzugeben.

Dieses ganze Phänomen stellt ein bemerkenswertes Cluster von Ideen dar: Identität als eine Angelegenheit des kollektiven Gedächtnisses; rituelles Nacherzählen der nationalen Geschichte; vor allem die Tatsache, dass jeder von uns ein Hüter dieser Geschichte und Erinnerung ist. Nicht die Führungskräfte oder eine Elite allein sind aufgefordert, sich der Vergangenheit zu erinnern, sondern jeder Einzelne von uns. Auch dies ist ein Aspekt der Dezentralisierung und Demokratisierung der Führung, die wir im gesamten Judentum als Lebensform finden. Die großen Führer erzählen die Geschichte der Gruppe, aber die größte aller Führungspersönlichkeiten, Moses, lehrte die Menschen, eine Nation von Geschichtenerzählern zu werden.

Die Kraft dieses Gedankens kann man auch heute noch erkennen. Wie ich einmal geschrieben habe,[9] wird man, wenn man die Denkmäler der Präsidenten in Washington besucht, feststellen, dass auf jedem eines ihrer Zitate als Inschrift verewigt ist: Jeffersons „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich…“, Roosevelts „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, Lincolns Gettysburg Address und seine Rede anlässlich seiner zweiten Amtseinführung „Mit Bosheit gegenüber niemanden, mit Nächstenliebe für alle…“ Jede Gedenkstätte erzählt eine Geschichte.

London hat keine solche Entsprechung. Es gibt dort viele Denkmäler und Statuen historischer Persönlichkeiten, jede mit einer kurzen Inschrift, die besagt, wen sie repräsentiert, aber es gibt keine Reden oder Zitate. Es wird nichts erzählt. Selbst das Denkmal für Winston Churchill, dessen Reden mit denen von Lincoln konkurrierten, trägt nur ein Wort: Churchill.

Amerika hat eine nationale Geschichte, weil es eine Gesellschaft ist, die auf der Idee des Bundes beruht. Die Erzählung ist das Herzstück der auf dem Bündnis begründeten Politik, weil sie die nationale Identität in einer Reihe von historischen Ereignissen verortet. Die Erinnerung an diese Ereignisse beschwört die Werte herauf, für die unsere Vorfahren gekämpft haben und deren Hüter wir sind.

Die Bündnisgeschichte ist immer integrativ, sie ist Eigentum aller Bürger, der Neuankömmlinge ebenso wie der Einheimischen. Sie sagt allen, unabhängig von Klasse oder Glaube: Das sind wir. Sie schafft ein Gefühl der gemeinsamen Identität, das über andere Identitäten hinausgeht. Deshalb konnte zum Beispiel Martin Luther King Jr. sie in einigen seiner größten Reden so wirkungsvoll einsetzen. Er forderte seine afroamerikanischen Mitbürger auf, sich als gleichberechtigten Teil der Nation zu sehen. Gleichzeitig forderte er die weißen Amerikaner auf, ihr Bekenntnis zur Unabhängigkeitserklärung und der darin enthaltenen Aussage, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, in Ehren zu halten.

In England gibt es nicht dieselbe Art nationalen Erzählens, denn es basiert nicht auf einem Verbund, sondern auf Hierarchie und Tradition. England, schreibt Roger Scruton, „war keine Nation, kein Glaube, keine Sprache, kein Staat, sondern ein Zuhause. Was zu Hause ist, braucht keine Erklärung. Es ist da, weil es eben da ist“.[10] England war historisch gesehen eine Klassengesellschaft, in der es herrschende Eliten gab, die im Namen der Nation als Ganzes regierten. Amerika, das von Puritanern gegründet wurde, die sich als ein neues, durch den Bund gebundenes Israel verstanden, war keine Gesellschaft von Herrschern und Beherrschten, sondern eine Gesellschaft mit kollektiver Verantwortung. Daher der Satz, der für die amerikanische Politik von zentraler Bedeutung ist, aber in der englischen Politik nie verwendet wurde: We, the people – „Wir, das Volk“.[11]

Indem er die Israeliten zu einer Nation von Geschichtenerzählern machte, trug Moses dazu bei, dass sie ein Volk wurden, das durch kollektive Verantwortung verbunden ist – untereinander, gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft und gegenüber Gott. Indem er eine Erzählung entwarf, die sich nachfolgende Generationen aneignen und an ihre Kinder weitergeben würden, machte Moses die Juden zu einem Volk von Führern.

[1] Howard Gardner in Zusammenarbeit mit Emma Laskin, Leading Minds: An Anatomy of Leadership (New York, Basic Books, 2011).

[2] Alasdair MacIntyre, After Virtue (University of Notre Dame Press, 1981).

[3] Ibid.

[4] Barbara Hardy, An Approach Through Narrative, Novel: A Forum on Fiction 2 (Durham, N.C., Duke University Press, 1968), S. 5.

[5] Mischna Bikurim 3:3.

[6] Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor: Jewish History and Jewish Memory (Schocken, 1989), S. 9.

[7] Ibid., 12.

[8] Dies ist eine einfache Erinnerung, keine Etymologie. Historia ist ein griechisches Wort und bedeutet Untersuchung. Dasselbe Wort bedeutet im Lateinischen eine Erzählung vergangener Ereignisse.

[9] Jonathan Sacks, The Home We Build Together: Recreating Society (Bloomsbury Academic, 2009).

[10] Roger Scruton, England, an Elegy (Continuum, 2006), S. 16.

[11] Siehe We the People, den Aufsatz zu Behar-Bechukotai aus Covenant & Conversation, für eine weiterführende Diskussion über die Kraft dieses Satzes.