Mai ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Du sollst nicht

Die Verbote der Tora bewahren den Menschen davor, die Welt zu zerstören

Tewje der Milchmann singt »Wenn ich einmal reich wär«. Er lebt auf dem Dorf und melkt Kühe. Deshalb denkt er, dass der berühmte und reiche Baron Rothschild ein viel besseres Leben hat. Er hat genügend Geld, um seine Kinder gut zu verheiraten, besitzt ein großes Haus mit Dienern und vieles mehr, von dem Tewje nur träumen kann.

G’tt gab uns die Fähigkeit zu träumen. Er hat uns damit ein gutes Geschenk gemacht. Denn ohne Träume hätte der Mensch die erstaunliche Entwicklung der Moderne nie erreichen können. Kinder haben Träume und Erwachsene auch. Und alle hoffen, sie eines Tages zu verwirklichen.

Doch manche Menschen leben in einem Traum. Sie verschwenden Geld und verlassen sich zu sehr auf ihre Kreditkarte, um am Ende des Monats festzustellen, dass sie zahlungsunfähig sind. Briefe vom Anwalt oder die Schließung ihrer Bankkonten und der Besuch des Gerichtsvollziehers zeigen ihnen, dass sie nicht richtig gehandelt, sondern schwere Fehler begangen haben.

Wir hören manchmal von Menschen, die seit Jahren in verantwortungsvollen Berufen gearbeitet haben. Und später stellte sich heraus, dass sie überhaupt nicht dazu befähigt waren, sondern Hochstapler sind. Menschen tun so, als seien sie Ärzte oder Berater. Kein vernünftiger Mensch würde es wagen, mit einem Hochstapler zusammenzuarbeiten, sondern würde sofort die Polizei verständigen und alles tun, um dem Hochstapler das Handwerk zu legen.

ERFOLGE Man sagt, dass derjenige, der keinen Fehler macht, auch keine Erfolge erzielen kann. Aber es gibt unterschiedliche Fehler. Es ist logisch, einen Fehler zu machen, wenn etwas neu ist und noch nie getestet oder geprüft wurde. Der Mensch ist motiviert, glaubt an seinen Weg und versucht, ein Ziel zu erreichen, das bisher noch niemand erreicht hat. Man nennt das Herausforderung. Die einzige Methode voranzukommen ist, sich Ziele zu setzen, die über die Grenzen des Möglichen hinausgehen. Dabei kann es auch zu Fehlern kommen. Wenn jemand diese Fehler wiederholt, gilt er als dumm.

Unter den 613 Geboten der Tora nehmen die Verbote einen wichtigen Platz ein. Wir sprechen zwar lieber über die schönen Seiten der Gebote, um die Tora populärer zu machen. Wir erzählen dabei von der Schabbatruhe, die für den Körper, die Seele und die Familie wichtig ist oder vom Gebot der Beschneidung, das den jüdischen Jungen gänzlich mit G’tt und dem Volk verbindet. Aber warum 365 Verbote? Ist diese hohe Zahl nicht etwas übertrieben? Was ist der Sinn von so vielen Verboten?

Das Buch der Psalmen zeigt ein wichtiges Prinzip für den Lebensweg des Menschen. Ein ambitionierter Mensch, der vorankommen möchte, sucht manchmal eine Methode, um seine Wege zu ändern, damit er aus dem Schlamassel herauskommt und erfolgreich wird. Er ist wie ein Mann, der einen Pferdestall kauft und daraus einen Ausstellungsort für feine Möbel machen will. Wenn er die Möbel aufstellt, bevor der Stall gründlich gereinigt wurde, wird der Geruch an den Möbeln haften und ihren Wert herabsetzen. Deshalb wird der Mann zuerst den Ort säubern und guten Geruch verbreiten. Erst dann kann er seine Möbel darin ausstellen und alles wird auf die Kunden einen guten Eindruck machen.

HERAUSFORDERUNG König David sagt: »Weiche vom Bösen und tue Gutes« (Psalmen 34,15). Die Fähigkeit, etwas Gutes zu tun, hängt von der Kenntnis des Bösen ab und von der Beseitigung des Bösen auf unserem Weg in Richtung neuer Herausforderungen. Sind Probleme nicht gelöst, können sie erneut auftauchen. Jeder Landwirt weiß, dass er das Unkraut beseitigen muss, bevor er neuen Samen auf die Felder streut, weil sonst die neuen Pflanzen nicht wachsen können.

Für die meisten Verbote liefert die Tora keine Begründung. In unserer Parascha ist das anders. Während des Marsches durch die Wüste musste das Volk das Stiftszelt samt Ausrüstung tragen. Diese Aufgabe wurde unter den Familien des Stammes Levi aufgeteilt. Jeder von ihnen war dafür verantwortlich, einen bestimmten Teil des Stiftszelts zu tragen.

Eine besonders riskante Aufgabe wurde von der Familie Kehath übernommen. Bundeslade, Leuchter, Altar, Tisch der Schaubrote sind die Gegenstände des Stiftszelts, die versteckt waren. Nur die Priester konnten diese Gegenstände aus dem Stiftszelt anschauen – und auch das nur während ihrer Arbeit. Bei der Reise des Volkes Israel in der Sinai-Wüste erhielt die Familie Kehath die Anweisung, diese Gegenstände zu tragen. Wie konnten sie das tun, ohne mit dem Tod bestraft zu werden?

Anders als andere Taten, die uns die Tora wegen ihrer Unsittlichkeit verbietet, haben wir hier eine ambivalente Situation. Was ist unsittlich am Betrachten der Gegenstände der Stiftshütte? Jeder von uns möchte, dass der Messias kommt und erwartet den Wiederaufbau des Tempels. Wird auch dann das Betrachten dieser Gegenstände verboten bleiben?

So ist es. Der einfache Mensch, der sein Leben nicht so heilig lebt wie der Priester, könnte denken, er habe eine neue Stufe erreicht, die ihm vorenthalten bliebe, falls er die Gegenstände der Stiftshütte anschauen würde.

LEBENSGEFAHR Die Tora verbietet es, im Traum zu leben. Eine Vision ist etwas Positives, doch ein Traum könnte negativ sein. Jedes Kind kann zeigen, wie seine Eltern Auto fahren. Sollen wir es ihm deshalb erlauben, Auto zu fahren? Es wäre lebensgefährlich.

Um die Familie Kehath zu schützen, weist die Tora die Priester an, die Gegenstände mit speziellen Bezügen abzudecken. Die Träger der Gegenstände wurden somit geschützt, wenn sie sie tragen.

Verbote haben die Bedeutung, den Menschen davor zu bewahren, vom richtigen Weg abzukommen. Die Urteilskraft des Menschen reicht nicht aus, um sich im Leben selbst Grenzen zu setzen. Es besteht die Tendenz, bei der Entscheidung, was moralisch ist und was nicht, die Grenze etwas großzügiger ziehen zu wollen. Ebenso haben Menschen auch die natürliche Tendenz, etwas sein zu wollen, was sie eigentlich nicht sind. Denken wir nur an das Verbot, nicht zu gelüsten. Darin wird dem Menschen verboten zu begehren, was ihm nicht gehört – im schlimmsten Fall die Frau seines Freundes.

Es gibt 365 Verbote, genauso viele wie Tage im Jahr. Der Maharal (Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel von Prag, etwa 1529–1609) erklärt, dass es bei den Verboten genauso ist wie beim Sonnenjahr: Es ist nicht erlaubt, Tage abzuziehen oder hinzuzufügen. Solange der Mensch die Weltordnung aufrechterhält, wird alles in seiner Ordnung bleiben. Eine Veränderung der Ordnung aber kann die ganze Welt zerstören.

Es ist also erlaubt, »Was wäre, wenn?« zu spielen. Aber es ist verboten, »Was wäre, wenn?« zu leben.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 23.05.2011