Nov ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Drei Arten der Liebe

Das Judentum ist in erster Linie eine Religion der Liebe: dreier Lieben. „Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft” (Deut. 6:5); „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” (Lev. 19:18); Und „Ihr sollt den Fremden lieben, denn ihr wart einst Fremde in einem fremden Land” (Deut. 10:19).[1]

Das Judentum ist nicht nur eine Religion der Liebe, es war auch die erste Zivilisation, die die Liebe in den Mittelpunkt des moralischen Lebens stellte. C. S. Lewis und andere wiesen darauf hin, dass alle großen Zivilisationen so etwas wie die Goldene Regel haben: Begegne anderen so, wie du wünschst, dass sie dir gegenüber handeln,[2] oder, in ihrer negativen Formulierung von Hillel: Was du nicht willst, dass man dir antut, das füg auch keinem anderen zu. (Schabbat 31a). Dies nennen Spieltheoretiker gegenseitige Uneigennützigkeit oder Tit-for-tat. Eine Form dieses Altruismus (insbesondere die von Martin Nowak von Harvard entwickelte Variante namens „großzügiges Tit-for-Tat”) hat sich in Computersimulationen als die beste Strategie für das Überleben einer jeden Gruppe erwiesen.[3]

Im Judentum geht es auch um Gerechtigkeit. Albert Einstein sprach von der „fast fanatischen Liebe zur Gerechtigkeit”, die ihn dazu brachte, seinem Glück zu danken, dass er als Jude geboren wurde.[4] Die einzige Stelle in der Tora, die erklärt, warum Abraham als Begründer eines neuen Glaubens auserwählt wurde, lautet: „Denn ich habe ihn auserwählt, damit er seine Kinder und sein Haus nach ihm unterweise, dem Weg des Ewigen treu zu bleiben, indem sie tun, was recht und gerecht ist” (Gen. 18:19). Warum also diese Kombination aus Gerechtigkeit und Liebe? Warum ist Liebe allein nicht genug?

Unsere Parascha enthält einen spannenden Abschnitt von nur wenigen Worten, der uns die Antwort gibt. Erinnern wir uns an den Hintergrund: Jakob ist auf der Flucht von zu Hause und findet Zuflucht bei seinem Onkel Laban. Er verliebt sich in Rachel, Labans jüngere Tochter, und arbeitet sieben Jahre lang, um sie heiraten zu können. Als er am Morgen nach der Hochzeitsnacht aufwacht, stellt er fest, dass er Rachels ältere Schwester Lea geheiratet hat. Wütend stellt er Laban zur Rede. Laban antwortet: „Bei uns ist es nicht üblich, die Jüngere vor der Älteren zu heiraten” (Gen. 29:26). Er sagt Jakob, er könne auch Rachel heiraten, wenn er bereit wäre, sieben weitere Jahre dafür zu arbeiten.

Dann lesen oder besser gesagt hören wir eine Reihe von sehr ergreifenden Worten. Um ihre Wirkung zu verstehen, müssen wir uns bewusst machen, dass es in der Antike bis zur Erfindung des Buchdrucks nur wenige Bücher gab. Bis dahin hörten die meisten Menschen (mit Ausnahme derer, die an der Bima standen) die Tora in der Synagoge. Sie sahen sie nicht in gedruckter Form. Der Begriff Keriat Hatora bedeutet eigentlich nicht, die Tora zu lesen, sondern sie zu verkünden, sie zu einer öffentlichen Erklärung zu machen.[5]

Betrachten wir die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten, ist ein grundlegender Unterschied zwischen Lesen und Hören zu vermerken: Beim Lesen können wir den gesamten Text – einen Satz oder Absatz – auf einmal sehen. Beim Hören können wir dies nicht. Wir hören immer nur ein Wort, und wir wissen nicht im Voraus, wie ein Satz oder ein Absatz enden wird. Einige der stärksten literarischen Effekte in einer mündlichen Kultur treten auf, wenn die einleitenden Worte eines Satzes uns ein bestimmtes Ende erwarten lassen und wir stattdessen auf ein anderes stoßen.

Dies sind die ergreifenden Worte, die wir hören: „Und er [Jakob] liebte auch Rachel” (Gen. 29:30). Das ist es, was wir erwartet und erhofft haben. Jakob hat nun zwei Frauen, Schwestern – etwas, das im späteren jüdischen Gesetz verboten sein wird. Es ist eine spannungsgeladene Situation. Aber unser erster Eindruck ist, dass alles gut sein wird. Er liebt sie beide.

Diese Erwartung wird durch das nächste Wort, Milea, „mehr als Lea”, zunichte gemacht. Das ist nicht nur unerwartet, es ist auch grammatikalisch unmöglich. Man kann keinen Satz bilden, in dem es heißt: „X liebte Y auch mehr als Z.” Das „auch” und das „mehr als” widersprechen sich gegenseitig. Dies ist einer der seltenen und eindrucksvollen Fälle, in denen die Tora absichtlich eine gebrochene Syntax verwendet, um ein gestörtes Verhältnis anzudeuten.[6]

Dann kommt der nächste Satz, und er schockiert: „Gott sah, dass Lea verhasst war” (Gen. 29:31). Aber war sie wirklich verhasst? Nein. Der vorherige Satz hat uns gerade gesagt, dass sie geliebt wurde. Was meint die Tora dann mit „verhasst”? Es bedeutet, dass Lea sich so fühlte. Ja, sie wurde geliebt, aber weniger als ihre Schwester. Lea war klar und hatte sieben Jahre lang gesehen, dass Jakob leidenschaftlich in ihre jüngere Schwester Rahel verliebt war, von der die Tora sagt, dass er sieben Jahre lang für sie arbeitete, „jedoch kamen sie ihm wie ein paar Tage vor, weil er sie so sehr liebte” (Gen. 29:20).

Lea wurde nicht gehasst. Sie wurde weniger geliebt. Aber jemand in dieser Situation kann nicht anders, als sich zurückgewiesen zu fühlen. Die Tora zwingt uns, Leas Schmerz in den Namen zu hören, die sie ihren Kindern gibt. Ihr erstes Kind nennt sie Ruben und sagt: „Weil Gott mein Elend gesehen hat. Sicherlich wird mein Mann mich jetzt lieben.” Das zweite nennt sie Schimon, „weil Gott gehört hat, dass ich nicht geliebt werde”. Das dritte ruft sie schließlich Levi und sagt: „Jetzt wird mein Mann sich mir endlich verbinden” (Gen 29:32-35). In diesen Worten liegt eine anhaltende Angst.

Den gleichen Ton vernehmen wir später, als Ruben, Leas Erstgeborener, auf dem Feld Alraunen findet. Alraunen wurde eine aphrodisierende Wirkung nachgesagt, und so gibt er sie seiner Mutter in der Hoffnung, dass dies eine anziehende Wirkung auf seinen Vater haben wird. Rachel, die unter einer anderen Art von Schmerz leidet, nämlich der Kinderlosigkeit, sieht die Alraunen und bittet Lea um sie. Lea sagt daraufhin: „Reicht es nicht, dass du mir meinen Mann genommen hast? Willst du auch die Alraunen meines Sohnes nehmen?” (Gen. 30:15). Der Schmerz ist deutlich zu spüren.

Vermerken wir, was hier geschah: Es begann mit Liebe, und es ging die ganze Zeit um Liebe. Jakob liebte Rachel. Er liebte sie auf den ersten Blick. Es gibt keine andere Liebesgeschichte in der Tora, die vergleichbar wäre. Abraham und Sara sind bereits verheiratet, als wir ihnen zum ersten Mal begegnen. Isaak ließ sich seine Frau von dem Diener seines Vaters aussuchen. Aber Jakob liebt. Er ist emotionaler als die anderen Patriarchen; das ist das Problem. Liebe eint, aber sie trennt auch. Sie lässt die Ungeliebten, selbst die weniger Geliebten, mit dem Gefühl der Ablehnung, des Verlassenseins, und der Einsamkeit zurück. Deshalb kann man eine Gesellschaft, eine Gemeinde oder gar eine Familie nicht allein auf Liebe begründen. Es muss auch Gerechtigkeit als Fairness geben.

Wenn wir uns die fünfzehn Male ansehen, die das Wort „Liebe”, Ahawa, im Buch Genesis erwähnt wird, machen wir eine außergewöhnliche Entdeckung: Jedes Mal, wenn die Liebe erwähnt wird, führt sie zu Konflikten. Isaak liebte Esau, aber Rebekka liebte Jakob. Jakob liebte Josef, Rachels Erstgeborenen, mehr als seine übrigen Söhne, und daraus entstanden zwei der schicksalhaftesten Geschwisterrivalitäten der jüdischen Geschichte.

Doch selbst diese verblassen in vergleichsweiser Bedeutungslosigkeit, wenn wir uns das erste Mal vor Augen halten, da das Wort Liebe in der Tora auftaucht, in den einleitenden Worten der Prüfung der Bindung Isaaks: „Nimm nun deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst…” (Gen. 22:2). Raschi folgt in seiner Erklärung zur Stelle dem Midrasch, der seinerseits durch den offensichtlichen Vergleich zwischen der Bindung Isaaks und dem Buch Hiob inspiriert wurde. Demnach sprach Satan, der anklagende Engel, zu Gott, als Abraham ein Fest veranstaltete, um die Entwöhnung seines Sohnes zu feiern: „Siehst du, er liebt sein Kind mehr als dich” (Raschi zu Gen. 22:1). Das war dem Midrasch zufolge der Grund für die Prüfung: zu zeigen, dass Satans Anschuldigung haltlos war.

Das Judentum ist eine Religion der Liebe, und dies aus tiefen theologischen Gründen. In der Welt der Mythen waren die Götter den Menschen gegenüber schlimmstenfalls feindselig, bestenfalls gleichgültig eingestellt. Im modernen Atheismus existieren das Universum und das Leben ohne jeglichen Grund. Wir sind Unfälle der Materie, das Ergebnis blinder Zufälle und natürlicher Auslese. Der Ansatz des Judentums ist von unvergleichlicher Schönheit: Wir sind hier, weil Gott uns in Liebe und Vergebung erschaffen hat und uns auffordert, andere zu lieben und ihnen zu vergeben. Liebe, Gottes Liebe, ist in unserem Wesen stillschweigend impliziert.

In so vielen unserer Texte kommt diese Liebe zum Ausdruck: der Abschnitt vor dem Schma mit seiner Rede von „großer” und „unverbrüchlicher Liebe”; das Schma selbst mit seinem Gebot der Liebe; die priesterlichen Segenssprüche, die in Liebe ausgesprochen werden sollen; Schir Haschirim, das Hohelied, das große Gedicht der Liebe; Schlomo Albakez’ Lecha Dodi, „Komm, mein Geliebter”, Elieser Asikris Jedid Nefesch, „Seelengeliebter”. Willst du gut leben, dann liebe. Wenn du Gott nahe sein willst, liebe. Willst du, dass dein Zuhause mit dem Licht der göttlichen Gegenwart erfüllt ist, dann liebe. Liebe bereitet den Ort, an dem Gott wohnt.

Aber Liebe ist nicht genug. Man kann eine Familie, geschweige denn eine Gesellschaft, nicht allein auf Liebe aufbauen. Dazu braucht man auch Gerechtigkeit. Liebe ergreift Partei, Gerechtigkeit ist unparteiisch. Liebe ist speziell, Gerechtigkeit ist universell. Liebe gilt für diesen Menschen, nicht für jenen, Gerechtigkeit aber gilt für alle gleichermaßen. Ein Großteil des moralischen Lebens nährt sich aus dieser Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit. Und so ist es kein Zufall, dass viele Erzählungen der Genesis sie zum Thema haben. Es geht um Menschen und ihre Beziehungen, während der Rest der Tora sich hauptsächlich mit der Gesellschaft befasst.

Gerechtigkeit ohne Liebe ist hart. Liebe ohne Gerechtigkeit ist ungerecht, zumindest wird es den weniger Geliebten so vorkommen. Beides gleichzeitig zu erleben, ist jedoch praktisch unmöglich. Niels Bohr, der Nobelpreisträger für Physik, entdeckte einmal, dass sein Sohn etwas aus einem nahegelegenen Geschäft gestohlen hatte. Er erkannte, dass er auf die Situation auf zwei verschiedene Arten reagieren konnte: Er konnte seinen Sohn aus der Perspektive eines Richters (Gerechtigkeit) oder mit den Augen eines Vaters (Liebe) betrachten, aber er konnte nicht beides gleichzeitig tun.[7]

Im Zentrum des moralischen Lebens steht ein Konflikt, für den es keine einfache Lösung gibt. Es gibt keine allgemeine Regel, die uns sagt, wann Liebe und wann Gerechtigkeit die angemessene Reaktion ist. In den 1960er Jahren sangen die Beatles: All you need is love, Du brauchst nur Liebe. Wäre es doch nur so einfach, aber es verhält sich anders. Liebe reicht nicht aus. Wir wollen wohl lieben, aber lasst uns nie die vergessen, die sich ungeliebt fühlen. Auch sie sind Menschen, auch sie haben Gefühle. Und auch sie sind das Ebenbild Gottes.

[1] Siehe auch Lev. 19:33-34.

[2] C. S. Lewis, Die Abschaffung des Menschen (Johannes Verlag, 2012).

[3] Siehe zum Beispiel Martin Nowak und Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution (Verlag C. H. Beck, Text, 2011).

[4] Albert Einstein, The World as I See It (New York, Philosophical Library, 1949).

[5] Dies hat halachische Implikationen. Keriat Hatora ist nach Ansicht der meisten Rishonim eine Chowat Hazibur, eine gemeinschaftliche und nicht eine individuelle Verpflichtung (im Gegensatz zum Lesen der Megilla an Purim).

[6] Das klassische Beispiel ist der unübersetzbare Vers in Gen. 4:8, in dem Kain Abel tötet. Der Zusammenbruch der Sprache drückt dort das Scheitern der Beziehung aus, was wiederum zum Scheitern der Moral und dem ersten Mord führt.

[7] Jerome Bruner, Actual Minds, Possible Worlds (Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press, 1986), S. 51.

  1. Ist es falsch, den einen Menschen mehr zu lieben als den anderen?
  2. Inwiefern ist Gerechtigkeit universell?
  3. Welche Aussage machen wir mit dem Gebet Awinu Malkenu („Unser Vater, unser König“), das an den hohen Feiertagen und an Fastentagen gesprochen wird?

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