Jun ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Dienende Führung

Dienende Führung
Korach 5781

„Ihr seid zu weit gegangen! Die ganze Gemeinde, sie alle sind heilig, und Gott ist mit ihnen. Warum erhebt ihr euch dann über die Gemeinde Gottes?“ (Num. 16:3).

Was genau war falsch an dem, was Korach und sein bunt zusammengewürfelter Haufen von Unruhestiftern vorbrachten? Wir wissen, dass Korach ein Demagoge war, kein Demokrat. Er wollte die Macht für sich selbst, nicht für das Volk. Wir wissen auch, dass die Beschwerdeführenden unaufrichtig waren. Jeder hatte seine eigenen Gründe, Moses oder Aaron oder dem Schicksal gram zu sein. Lassen wir diese Überlegungen für einen Augenblick beiseite und fragen: War das, was sie sagten, wahr oder falsch?

Sie hatten sicherlich recht, wenn sie sagten: „Die ganze Gemeinde, sie alle sind heilig.“ Das ist schließlich das, was Gott vom Volk verlangt: ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation zu sein, das heißt ein Königreich, dessen Mitglieder alle (in gewissem Sinne) Priester sind, und eine Nation, deren Bürger alle heilig sind.[1]

Sie hatten ebenso recht, wenn sie sagten: „Gott ist mit ihnen.“ Eben hier liegt der tiefe Sinn für den Bau der Stiftshütte: „Sie sollen mir ein Heiligtum errichten, dass ich mitten unter ihnen wohne“ (Exod. 25:8). Das Buch Exodus endet mit diesen Worten: „Denn eine Wolke des Ewigen war über dem Stiftzelt bei Tag, und des Nachts war ein Feuer in der Wolke vor den Augen des ganzen Hauses Israel auf allen seinen Wanderungen.“ (Exod. 40:38). Die göttliche Gegenwart war sichtbar mit dem Volk, wohin es auch ging.

Was falsch war, war ihre letzte Bemerkung: „Warum stellt ihr euch dann über die Gemeinde Gottes?“ Dies war kein kleines Versehen, sondern ein grundlegender Fehler. Moses repräsentiert den Beginn einer neuen Art von Führung. Das ist es, was Korach und seine Anhänger nicht verstanden haben. Viele von uns verstehen es immer noch nicht.

Die berühmtesten Gebäude der antiken Welt waren die mesopotamischen Zikkurate und die ägyptischen Pyramiden. Diese waren mehr als nur Gebäude. Sie waren steinerne Aussagen über eine hierarchische Gesellschaftsordnung. Sie waren breit an der Basis und schmal an der Spitze. An der Spitze stand der König oder Pharao – an dem Punkt, so glaubte man, an dem sich Himmel und Erde trafen. Darunter befand sich eine Reihe von Eliten, und darunter die arbeitenden Massen.

Man glaubte, dass dies nicht nur ein Weg sei, eine Gesellschaft zu organisieren, sondern der einzige Weg. Das gesamte Universum selbst war nach diesem Prinzip organisiert, ebenso wie der Rest allen Lebens. Die Sonne beherrschte den Himmel. Der Löwe herrschte über das Tierreich. Der König herrschte über die Nation. So war es in der Natur. So muss es immer sein. Die einen sind geboren, um zu herrschen, die anderen, um beherrscht zu werden.[2]

Das Judentum ist ein Protest gegen diese Art von Hierarchie. Jeder Mensch, nicht nur der König, ist im Ebenbilde und nach dem Gleichnis Gottes geschaffen. Deshalb hat niemand das Recht, über einen anderen ohne dessen Zustimmung zu herrschen. Doch immer bedarf es einer Führung, denn ohne einen Dirigenten würde ein Orchester in Disharmonie geraten. Ohne einen Mannschaftskapitän könnte ein Team brillante Spieler haben und doch keine Mannschaft sein. Ohne Generäle wäre eine Armee nur ein Mob. Ohne eine Regierung würde eine Nation in Anarchie verfallen. „In jenen Tagen gab es keinen König in Israel. Jeder tat, was er für richtig hielt“ (Richter 17:6, 21:25).

In einer Gesellschaftsordnung, in der jeder Mensch in den Augen des Himmels die gleiche Würde hat, steht ein Leiter nicht über dem Volk. Er dient dem Volk, und sie dienen Gott. Das große Symbol des biblischen Israels, die Menora, ist eine umgekehrte Pyramide oder Zikkurat, breit an der Spitze, schmal an der Basis. Der größte Führer ist also der bescheidenste. „Moses aber war sehr demütig, mehr als irgend ein Mensch auf der Erde“ (Num. 12:3).

Dieses Konzept ist unter dem Begriff „dienende Führung“ bekannt, und sein Ursprung liegt in der Tora.[3]  Die höchste Ehrung, die Moses zuteil wurde, ist, dass er „der Diener Gottes“ genannt wurde (Deut. 34:5). Achtzehn Mal wird auf Moses im Tanach so Bezug genommen. Außer ihm verdient nur ein anderer Führer die gleiche Beschreibung: Josua, der zweimal auf diese Weise beschrieben wird.

Nicht weniger faszinierend ist die Tatsache, dass nur eine Person in der Tora ausdrücklich angewiesen ist, demütig zu sein, nämlich der König:

Wenn er auf dem Throne seines Reiches sitzt, soll er sich diese Lehre, die bei den Priestern aus dem Stamme Levi liegt, in einer Schriftrolle kopieren. Er soll sie bei sich haben und alle Tage seines Lebens darin lesen, auf dass er lerne, den Ewigen, seinen Gott, zu fürchten und alle Worte dieser Lehre und diese Gesetze sorgfältig zu befolgen, auf dass er sich nicht in seinem Herzen über seine Brüder erhebe (Deut. 17:18-20).

Maimonides beschreibt das richtige Verhalten eines Königs dergestalt:

So wie die Tora ihm die große Ehre zuerkannt und alle verpflichtet hat, ihn zu ehren, so hat sie ihm auch geboten, bescheiden und demütigen Herzens zu sein, wie es heißt: „Mein Herz ist leer in mir“ (Ps. 109:22). Auch soll er Israel nicht mit überheblichem Hochmut behandeln, wie es heißt: „Er soll sich nicht für besser halten als seine Mitmenschen“ (Deut. 17:20).

Er sollte gnädig und barmherzig zu Groß und Klein sein und sich an ihrem Wohlergehen und ihrer Fürsorge beteiligen. Er sollte die Ehre selbst der einfachsten Menschen schützen.

Wenn er zum Volk als Gemeinde spricht, sollte er gleich König David in I Chronik 28:2 sanft sprechen: „Höret, meine Brüder und mein Volk…“. Ähnlich heißt es in I Könige 12:7: „Wenn du denn heute diesem Volke ein Diener bist…“

Er sollte sich immer mit großer Demut verhalten. Niemand übertrifft Moses, unseren Lehrer, und dennoch sagte er: „Was sind wir? Eure Klagen richten sich nicht gegen uns“ (Exod. 16:8). Er sollte die Schwierigkeiten, Lasten, Beschwerden und den Ärger des Volkes tragen, wie ein Kindermädchen einen Säugling trägt.[4]

Das Gleiche gilt für alle Führungspositionen. Maimonides zählt zu denen, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben, jedweden, der „der Gemeinschaft eine Herrschaft der Angst auferlegt, nicht um des Himmels willen“. So jemand „herrscht mit Gewalt über eine Gemeinschaft, so dass die Menschen große Angst und Furcht vor ihm haben“, und tut dies „für seinen eigenen Ruhm und seine persönlichen Interessen“. Maimonides fügt zu diesem letzten Satz hinzu: „wie heidnische Könige“.[5]  Die polemische Absicht ist klar. Es geht nicht darum, dass sich niemand so verhält, sondern, dass dies keine jüdische Art ist, sich zu verhalten.

Als Rabban Gamliel in einer Weise handelte, die seine Kollegen als selbstherrlich ansahen, wurde er als Nassi, als Oberhaupt der Gemeinde, abgesetzt, bis er seinen Fehler eingestand und sich entschuldigte.[6] Rabban Gamliel lernte die Lektion. Später sagte er zu zwei Leuten, die sein Angebot ablehnten, Führungspositionen zu übernehmen: „Glaubt ihr, ich gebe euch eine Ehrenposition [Serara]? Ich biete euch die Gelegenheit, zu dienen [Awdut].“[7]  Wie Martin Luther King einmal sagte: „Jedem ist es gegeben, groß zu sein … denn jeder kann dienen.“[8]

C. S. Lewis definierte Demut zu Recht folgendermaßen: Demut bedeutet nicht, weniger von sich selbst zu halten, sondern weniger an sich selbst zu denken. Große Führer respektieren andere. Sie zollen ihnen Respekt und inspirieren sie, Höhen zu erreichen, die sie vielleicht sonst nie erklommen hätten. Sie werden durch Ideale angetrieben, nicht durch persönlichen Ehrgeiz, und erliegen nicht der Arroganz der Macht.

Manchmal begehen wir die schlimmsten Fehler, wenn wir unsere Gefühle auf andere projizieren. Korach war ein ehrgeiziger Mann, deshalb sah er Moses und Aaron als zwei vom Ehrgeiz Getriebene, die sich „über die Gemeinde Gottes stellen“. Er verstand nicht, dass zu führen im Judentum bedeutet: zu dienen. Jene, die dienen, erheben sich nicht selbst, sie heben andere Menschen empor.

[1] Einige vermuten, dass ihr Fehler darin bestand zu sagen: „Sie alle sind heilig“ (kulam kedoschim), anstatt „Die ganze Gemeinde ist heilig“ (kula kedoscha). Die Heiligkeit der Gemeinde ist kollektiv, nicht individuell. Andere meinen, dass sie hätten sagen sollen, „ist berufen, heilig zu sein“, anstatt „ist heilig“. Heiligkeit ist eine Berufung, nicht ein Zustand.

[2] Aristoteles, Politik, Buch 1, 1254 a 21-24.

[3] Der bekannteste Text zu diesem Thema findet sich bei Robert K. Greenleafs Servant Leadership: A Journey into the Nature of Legitimate Power and Greatness (New York, Paulist Press, 1977). Greenleaf verortet diese Idee jedoch nicht in der Tora. So ist es wichtig anzuerkennen, dass sie ihren Ursprung hier, bei Moses, hat.

[4] Hilchot Melachim 2:6

[5] Hilchot Teschuwa 3:13.

[6] Berachot 27b.

[7] Horajot 10a-b.

[8] Martin Luther King Jr., Nobelpreis-Dankesrede (Oslo, Norwegen, 10. Dezember 1964).