Apr ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Die Kunst des Lobens

Unsere Weisen befassten sich eingehend mit dem Thema Laschon Hara, üble Nachrede , die Sünde, die sie für die Ursache von Zara’at, Ausssatz, hielten. Es gibt jedoch ein meta-halachisches Prinzip: „Aus dem Negativen das Positive ableiten.“[1] So kann man zum Beispiel aus der Schwere des Verbots des Chilul Haschem, der Entweihung von Gottes Namen, die Bedeutung des Gegenteils ableiten – des Kidusch Haschem, der Heiligung von Gottes Namen.

Daraus folgt, dass es neben der schweren Sünde von Laschon Hara prinzipiell das Konzept von Laschon Hatow, der guten Rede, geben muss, und dieses muss mehr sein als die bloße Negation seines Gegenteils. Der Weg, um Laschon Hara zu vermeiden ist der, sich in Schweigen zu üben. Und in der Tat ergründeten die Weisen die Bedeutung des Schweigens.[2] Schweigen bewahrt uns vor böser Rede, aber damit allein erreichen wir noch nichts Positives. Was ist also Laschon Hatow?

Eine der wichtigsten Aufgaben einer Führungspersönlichkeit, eines Elternteils oder eines Freundes ist es, gezielt zu loben. Wir haben diese Idee zum ersten Mal in Paraschat Wajeschew besprochen, wo wir den klassischen Text dazu untersucht haben – eine Mischna im Traktat Awot (2:11), in der Rabban Jochanan Ben Sakai seine fünf geliebten Schüler mit den Worten lobt:

Elieser Ben Hyrkanos: ein verputzter Brunnen, der nie einen Tropfen verliert. Jehoschua Ben Chananja: glücklich diejenige, die ihn geboren hat. Jose der Priester: ein frommer Mann. Schimon Ben Netanel: ein Mann, der die Sünde fürchtet. Eleasar Ben Arach: eine fortwährend fließende Quelle.

Jeder Rabbi hatte Schüler. Der Imperativ „Ziehe viele Jünger auf“[3] ist eine der ältesten uns überlieferten rabbinischen Lehren. Was die Mischna uns hier sagt, ist, wie man Schüler heranzieht. Es ist nicht schwer, eine Gefolgschaft zu haben. Oft wird ein guter Lehrer im Laufe der Zeit feststellen, dass es ihm gelungen ist, eine große Zahl von Anhängern um sich zu scharen, Schüler, die unkritische Verehrer sind. Wie aber ermutigt man diese Anhänger dazu, selbst kreative Denker zu werden? Es ist viel schwieriger, Führer hervorzubringen als es ist, Anhänger zu schaffen.

Rabban Jochanan Ben Sakai war ein großer Lehrer, denn fünf seiner Schüler wurden selbst zu Giganten des Geistes. Die Mischna erzählt uns, wie er das gemacht hat: mit gezieltem Lob. Er zeigte jedem seiner Schüler auf, wo seine besondere Stärke lag. Elieser Ben Hyrkanos, der „verputzte Brunnen, der nie einen Tropfen verliert“, war mit einem herausragenden Gedächtnis gesegnet – eine wichtige Fähigkeit in einer Zeit, in der Manuskripte selten waren und das Mündliche Gesetz noch nicht zu Papier gebracht war. Schimon Ben Netanel, der „Mann, der die Sünde fürchtet“, hatte vielleicht nicht die intellektuelle Brillanz der anderen, aber seine ehrfürchtige Art erinnerte sie daran, dass sie nicht nur Gelehrte waren, sondern auch heilige Männer, in Erfüllung einer heiligen Aufgabe. Eleasar Ben Arach, die „fortwährend fließende Quelle“, hatte einen kreativen Geist, der ständig neue Interpretationen der überlieferten Texte hervorbrachte.

Ich entdeckte die transformative Kraft, der ein fokussiertes Lob innewohnt, bei einer der bemerkenswertesten Personen, die ich je getroffen habe, der verstorbenen Lena Rustin. Lena war Sprachtherapeutin und darauf spezialisiert, Kindern zu helfen, die unter Stottern litten. Ich lernte sie durch eine Fernsehdokumentation kennen, die ich für die BBC über den Zustand der Familie in Großbritannien drehte. Lena glaubte, dass die kleinen Kinder, die sie behandelte – sie waren im Durchschnitt etwa fünf Jahre alt – im Kontext ihrer Familien verstanden werden mussten. Im Allgemeinen neigen Familien dazu, ein internes Gleichgewicht zu entwickeln. Wenn ein Kind stottert, stellen sich alle in der Familie darauf ein. Wenn das Kind also sein Stottern überwinden soll, müssen die Beziehungen innerhalb der Familie neu verhandelt werden. Nicht nur das Kind muss sich ändern. Auch alle anderen müssen das tun.

Im Großen und Ganzen neigen wir dazu, uns Veränderungen zu widersetzen. Wir gewöhnen uns an Verhaltensmuster, die uns bequemer sind, wie ein gern genutzter Sessel oder ein gut getragenes Paar Schuhe. Wie schafft man in einer Familie eine Atmosphäre, die Veränderungen fördert, ohne bedrohlich zu wirken? Die Antwort, die Lena entdeckte, war: Lob. Sie sagte den Familien, mit denen sie arbeitete, sie sollten jeden Tag etwas bemerken, das jedes einzelne Familienmitglied richtig machte und dies auch zum Ausdruck bringen – konkret, positiv und dankbar.

Sie holte nicht zu tiefen Erklärungen aus, aber als ich sie bei der Arbeit beobachtete, begann ich zu verstehen, was sie da tat. Sie schuf in jedem Haushalt eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung und ständiger positiver Bestärkung. Sie wollte, dass die Eltern ein Umfeld der Selbstachtung und des Selbstvertrauens schaffen, nicht nur für das stotternde Kind, sondern für jedes Mitglied der Familie, so dass die gesamte Atmosphäre des Hauses eine war, in der sich die Menschen sicher und wohl fühlten und bereit waren, sich in ihrem Verhalten zu ändern und anderen dabei zu helfen.

Mir wurde plötzlich klar, dass Lena hier eine Lösung nicht nur für das Stottern gefunden hatte, sondern für die Gruppendynamik ganz allgemein. Meine Intuition wurde bald auf überraschende Weise bestätigt. Innerhalb des Fernsehteams, mit dem ich damals arbeitete, war es zu Spannungen gekommen. Verschiedene Dinge waren schief gelaufen, und am Set herrschte eine Atmosphäre gegenseitiger Schuldzuweisungen. Nachdem ich eine Sequenz abgedreht hatte, in der Lena Rustin den Eltern beibrachte, wie man Lob gibt und empfängt, begann das Team ebenfalls, sich gegenseitig zu loben. Augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre. Die Spannung löste sich, und das Filmen machte wieder Spaß. Lob gibt Menschen das Vertrauen, die negativen Aspekte ihres Charakters abzuschütteln, damit sie ihr volles Potenzial entfalten.

Im Lob liegt auch eine tiefe spirituelle Botschaft. Wir meinen, bei Religion handle es sich allein um den Glauben an Gott. Was ich vorher nicht völlig begriffen hatte, war, dass der Glaube an Gott uns dazu führen soll, an den Menschen zu glauben. Ist Gottes Ebenbild doch in jedem von uns, und so müssen wir lernen, es zu erkennen. Ich verstand dann, dass der wiederholte Satz im ersten Kapitel der Schöpfungsgeschichte, „Und Gott sah, dass es gut war“, darauf gerichtet ist, uns zu lehren, das Gute in Menschen und Ereignissen zu sehen und dieses Gute zu stärken. Ich verstand somit auch, warum Gott Moses kurz bestrafte, indem er seine Hand mit Zara’at schlug – weil er über die Israeliten gesagt hatte: „Sie werden nicht an mich glauben.“ (Exod. 4:1). Moses wurde eine grundlegende Lektion in Dingen der Führung erteilt: Es ist nicht wichtig, ob sie an dich glauben. Was zählt, ist, dass du an sie glaubst.

Es war eine andere weise Frau, die mir eine weitere wichtige Lektion über das Loben vermittelte. Die Stanford-Psychologin Carol Dweck argumentiert in ihrem Buch Mindset,[4] dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob wir glauben, dass unsere Fähigkeiten angeboren und ein für alle Mal festgelegt sind (die „festgeschriebene“ Denkweise), oder ob wir davon ausgehen, dass Talent etwas ist, das wir im Laufe der Zeit durch Anstrengung, Übung und Ausdauer erreichen (die Denkweise des „Wachstums“). Menschen, die der ersten Denkweise folgen, neigen dazu, risikoscheu zu sein. Sie haben Angst, dass ein Misserfolg zeigen könnte, dass sie nicht so gut sind, wie angenommen wurde. Der anderen Gruppe gehören Menschen an, die risikofreudig sind, weil sie ein Scheitern als eine Lernerfahrung ansehen, die sie weiter wachsen lässt. Daraus folgt, dass es gutes und schlechtes Lob gibt. Eltern und Lehrer sollten Kinder nicht in absoluten Begriffen loben: „Du bist begabt, brillant, ein Star!“ Vielmehr sollten sie die Anstrengung loben: „Du hast dich angestrengt, du hast dein Bestes gegeben, und ich sehe die Verbesserung!“ Sie sollten eine Mentalität des Wachsens und Reifens anstelle einer festgeschriebenen Denkweise fördern.

Vielleicht erklärt dies auch ein trauriges Nachspiel im Leben der beiden begabtesten Schüler von Rabban Jochanan Ben Sakai. In der Mischna, die unmittelbar auf die oben zitierte folgt, heißt es:

Er [Rabban Jochanan Ben Sakai] pflegte zu sagen: Wenn alle Weisen Israels auf einer Seite einer Waage wären und Elieser Ben Hyrkanos auf der anderen, würde er sie alle überwiegen. Aba Schaul sagte jedoch in seinem Namen: Wenn alle Weisen Israels, einschließlich Elieser Ben Hyrkanos, auf einer Wagschale wären und Eleasar Ben Arach in der anderen, würde er sie alle überwiegen. (Awot 2:12)

Traurigerweise wurde Rabbi Elieser Ben Hyrkanos von seinen Kollegen mit einem Bann belegt, weil er die Mehrheitsmeinung in einer Frage des jüdischen Gesetzes nicht akzeptieren wollte.[5]  Was Rabbi Eleasar Ben Arach betrifft, so wurde er von seinen Kollegen getrennt. Als diese in die Akademie nach Javne gingen, ging er nach Emmaus, einem angenehmen Ort, an dem es aber an Toragelehrten mangelte. Am Ende vergaß er sein Lernen und wurde ein blasser Schatten seines früheren Selbst.[6] Womöglich hatte Rabban Jochanan ben Sakai, indem er seine Schüler für ihre angeborenen Fähigkeiten und nicht für ihre Bemühungen lobte, unversehens seine beiden begabtesten Schüler dazu ermutigt, eine festgeschriebene Denkweise zu entwickeln, anstatt sich mit den Kollegen auszutauschen und offen für intellektuelles Wachstum zu bleiben.

Lob und auch die Art und Weise, wie wir es geben, ist ein grundlegendes Element bei jeder Art von Führung. Indem wir das Gute in anderen erkennen und dies auch zum Ausdruck bringen, helfen wir den Menschen, ihr Potenzial voll zu entfalten. Indem wir ihre Bemühungen und nicht ihre angeborenen Gaben loben, fördern wir das Wachstum, von dem Hillel zu sagen pflegte: „Wer sein Wissen nicht vermehrt, verliert es“ (Avot 1:13). Die richtige Art des Lobes verändert Leben. Das ist die Kraft von Laschon Hatow. Negative Bemerkungen erniedrigen uns; positive Worte können uns in große Höhen heben. Oder wie W. H. Auden in einem seiner wundervollen Gedichte sagte:

Im Gefängnis seiner Tage

Lehre den freien Menschen zu loben.[7]

[1] Nedarim 11a.

[2] Siehe zum Beispiel Awot 1:17; 3:13.

[3] Awot 1:1.

[4] Carol Dweck, Mindset, Ballantine Books, 2007.

[5] Bawa Mezia 59b.

[6] Schabbat 147b

[7] W. H. Auden, In Memory of W. B. Yeats, Another Time (Random House, New York, 1940).