Okt ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Die Bindung von Isaak

„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, den du liebst – Isaak – und geh in das Land Morija. Opfere ihn dort als Brandopfer auf einem Berg, den ich dir zeigen werde“ (Gen. 22:2).

So beginnt eine der bekanntesten Episoden der Tora, aber auch eine der moralisch problematischsten. Die herkömmliche Lesart dieser Passage ist, dass Abraham aufgefordert wurde, unter Beweis zu stellen, dass seine Liebe zu Gott grenzenlos ist. Dies würde er dadurch zeigen, dass er bereit war, den Sohn zu opfern, auf den er ein Leben lang gewartet hatte.

Warum musste Gott Abraham „prüfen“, wo Er doch das menschliche Herz besser kennt als wir selbst? Maimonides antwortet, dass Gott nicht wollte, dass Abraham seine Liebe zu Ihm unter Beweis stelle. Die Prüfung war vielmehr dazu gedacht, für alle Zeiten festzuhalten, wie weit die Furcht vor Gott und die Liebe zu Ihm gehen muss.[1]

Über diesen Grundsatz gibt es wenig Diskussion, in der Begebenheit geht es um die Ehrfurcht vor Gott und die Liebe zu Ihm. Kierkegaard schrieb darüber[2] und brachte das Argument vor, dass die Ethik etwas Universelles sei. Sie bestehe aus allgemeinen Regeln. Die Liebe zu Gott aber sei speziell, eine persönliche Ich-Du-Beziehung. Was Abraham während des Prozesses durchlebte, war, so Kierkegaard, eine „theologische Aussetzung des ethischen Wertesystems“, dass heißt die Bereitschaft, der Ich-Du-Liebe Gottes zu erlauben, sich über die universellen Prinzipien, die Menschen aneinander binden, hinwegzusetzen.

Raw Soloveitchik erklärte die Geschichte mit der Bindung von Isaak ganz im Sinne seiner eigenen, wohlbekannten Charakterisierung religiösen Lebens als Dialektik zwischen Sieg und Niederlage, Majestät und Demut, dem Menschen als schöpferischem Meister und dem Menschen als gehorsamem Knecht.[3]  Es gibt Zeiten, in denen „Gott dem Menschen sagt, dass er sich von dem zurückhalten soll, was er am meisten begehrt“.[4] Wir müssen sowohl Niederlagen als auch Siege erleben. So war die Bindung Isaaks keine einmalige Episode, sondern vielmehr ein Paradigma für das gesamte religiöse Leben. Wo immer wir ein leidenschaftliches Verlangen verspüren – essen, trinken, körperliche Beziehungen -, gerade dort setzt die Tora der Befriedigung unserer Begierde Grenzen. Gerade weil wir uns der Kraft der Vernunft rühmen, enthält die Tora Chukim, Gesetze, die unserem Verstand undurchdringlich erscheinen.

Dies sind die konventionellen Lesarten, die den den Mainstream der Tradition ausmachen. Da es jedoch „siebzig Facetten der Tora“ gibt, möchte ich eine andere Auslegung unterbreiten. Mein Beweggrund dabei ist, dass ein Test für die Gültigkeit einer Interpretation darin besteht, sie mit dem Rest der Tora, dem Tanach und dem Judentum als Ganzes abzugleichen. Hieraus ergeben sich vier Probleme für die herkömmliche Lesart:

  1. Wir wissen aus dem Tanach und aus unabhängigen Quellen, dass die Bereitschaft, sein Kind als Opfer darzubringen, in der antiken Welt keinen Seltenheitswert hatte. Sie war etwas Alltägliches. Im Tanach wird erwähnt, dass Mescha, der König von Moab, dies tat. Ebenso Jifta, der am wenigsten zu bewundernde Anführer im Buch der Richter. Zwei der schlimmsten Könige des Tanach, Ahas und Menasche, führten diese Praxis in Juda ein, wofür sie angeprangert wurden. Es gibt archäologische Beweise – die Knochen von Tausenden kleiner Kinder -, dass Kinderopfer in Karthago und anderen phönizischen Stätten weit verbreitet waren. Es war heidnischer Brauch.
  2. Kinderopfer werden im gesamten Tanach mit Abscheu betrachtet. Micha fragt rhetorisch: „Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Sünde geben, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?“ (Micha 6:7), und antwortet: „Er hat dir, o Mensch, gezeigt, was gut ist. Und was verlangt Gott von dir? Recht zu handeln, Barmherzigkeit zu lieben und demütig zu sein vor deinem Gott“ (Micha 6:8). Wie könnte Abraham als Vorbild dienen, wenn das, was er zu tun bereit war, seinen Nachkommen verboten wurde?
  3. Insbesondere wurde Abraham dazu bestimmt, Eltern als Vorbild zu dienen. Gott sagt über ihn: „Denn Ich habe ihn erwählt, damit er seine Kinder und sein Haus nach ihm lehre, den Weg des Ewigen zu bewahren, indem sie tun, was recht und angemessen ist.“ Wie konnte er als vorbildlicher Vater dienen, wenn er bereit war, sein Kind zu opfern? Im Gegenteil, er hätte zu Gott erwidern sollen: „Wenn Du willst, dass ich Dir beweise, wie sehr ich Dich liebe, dann nimm mich als Opfer, nicht mein Kind.“
  4. Als Juden – ja, als Menschen – müssen wir Kierkegaards Prinzip der „theologischen Aufhebung des Ethischen“ ablehnen, eine Idee, die religiösen Fanatikern einen Freibrief dafür ausstellt, im Namen Gottes Verbrechen zu begehen. Es ist die Logik der Inquisition und des Selbstmordattentäters, nicht die Logik des richtig verstandenen Judentums.[5] Gott verlangt nicht von uns, unethisch zu sein. Wir mögen Ethik nicht immer aus der Perspektive Gottes verstehen, doch wir glauben: „Er ist der Fels, Seine Werke sind vollkommen, alle Seine Wege sind gerecht“ (Deut. 32:4).

Um zu verstehen, was es mit der Bindung von Isaak auf sich hat, müssen wir uns vor Augen halten, dass ein Großteil der Tora, insbesondere die Genesis, eine Polemik gegen Weltanschauungen ist, die die Tora als heidnisch, unmenschlich und falsch ansieht. Eine Institution, gegen die sich die Genesis wendet, ist die antike Familie, wie sie von Fustel de Coulanges beschrieben[6] und vor kurzem von Larry Siedentop in Die Erfindung des Individuums neu formuliert wurde.[7] 

Vor dem Entstehen der ersten Städte und Zivilisationen war die Familie die grundlegende soziale und religiöse Einheit. Nach Coulanges waren in der Antike drei Dinge untrennbar miteinander verflochten: die häusliche Religion, die Familie und das Recht auf Eigentum. Jede Familie hatte ihre eigenen Götter, darunter die Geister der verstorbenen Vorfahren, von denen sie Schutz erbat und denen sie Opfer darbrachte. Die Autorität des Familienoberhauptes, des Paterfamilias, war absolut. Er hatte die Macht über Leben und Tod seiner Frau und seiner Kinder. Nach dem Tod des Vaters ging die Autorität stets auf den erstgeborenen Sohn über. Solange der Vater lebte, hatten die Kinder eher den Status von Eigentum als den von Personen mit eigenem Recht. Dieser Gedanke setzte sich sogar über die biblische Zeit hinaus im römischen Rechtsprinzip, der Patria Potestas, fort.

Die Tora widerspricht jedem Element dieser Weltanschauung. Wie die Anthropologin Mary Douglas feststellt, ist eines der auffälligsten Merkmale der Tora, dass sie keine Opfer an tote Vorfahren vorsieht.[8] Es ist ausdrücklich verboten, die Geister der Toten zu anzurufen.

Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass in den frühen Erzählungen die Nachfolge nicht auf den Erstgeborenen übergeht: nicht auf Ismael, sondern auf Isaak, nicht auf Esau, sondern auf Jakob, nicht auf den Stamm Ruben, sondern auf Levi (Priesterschaft) und Juda (Königtum), nicht auf Aaron, sondern auf Moses.

Das Prinzip, dem die gesamte Geschichte Isaaks, von der Geburt bis zu seiner Bindung, entgegensteht, ist die Vorstellung, dass ein Kind Eigentum des Vaters ist. Zunächst ist die Geburt Isaaks ein Wunder. Sara hat ihre Menopause bereits hinter sich, als sie schwanger wird. In dieser Hinsicht ist die Geschichte von Isaak eine Parallele zur Geburt Samuels durch Hanna, die ebenso wie Sara auf natürlichem Wege nicht empfangen kann. Deshalb sagt Hanna, als Samuel geboren wird: „Ich habe um dieses Kind gebetet, und Gott hat mir gegeben, worum ich Ihn gebeten habe.  So übergebe ich ihn nun dem Ewigen. Sein ganzes Leben lang wird er Gott übergeben sein.“ (I Sam. 1:27) Diese Stelle ist der Schlüssel zum Verständnis der himmlischen Botschaft, die Abraham aufforderte, ihr nachzukommen: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest, denn du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, nicht vorenthalten“ (die Aussage erscheint zweimal, in Gen. 22:12 und 16). Der Test war nicht, ob Abraham seinen Sohn opfern würde, sondern ob er ihn Gott übergeben würde.

Das gleiche Prinzip findet sich im Buch Exodus wieder. Erstens ist es ein halbes Wunder, dass Moses überlebt hat, wurde er doch zu einer Zeit geboren, da Pharao angeordnet hatte, dass jedes männliche israelitische Kind getötet werden sollte. Zweitens: Während der zehnten Plage, als alle erstgeborenen ägyptischen Kinder starben, wurden die erstgeborenen israelitischen Kinder auf wundersame Weise gerettet. „Weiht mir jedes erstgeborene männliche Kind. Der Erstgeborene eines jeden Schoßes unter den Israeliten gehört Mir, ob Mensch oder Tier.“ Die Erstgeborenen waren ursprünglich dazu bestimmt, Gott als Priester zu dienen, aber nach der Sünde des Goldenen Kalbes verloren sie diese Rolle. Gleichwohl bleibt die Erinnerung an diese ursprüngliche Rolle in der Zeremonie des Pidjon HaBen lebendig, der Auslösung des erstgeborenen Sohnes.

Als Gott Abraham aufforderte, seinen Sohn zu opfern, verlangte er nicht etwa ein Kinderopfer, sondern etwas ganz anderes: Abraham sollte seinen Sohn nicht als sein Eigentum betrachten. Dabei sollte als nicht verhandelbares Prinzip jüdischen Gesetzes festgelegt werden, dass Kinder nicht das Eigentum ihrer Eltern sind.

Aus diesem Grund konnten drei der vier Stammesmütter nur durch ein Wunder schwanger werden. Die Tora sagt uns, dass die Kinder, die sie zur Welt brachten, eher Kinder Gottes waren als das natürliche Resultat eines biologischen Prozesses. Letztendlich sollte das gesamte Volk Israel als Kinder Gottes bezeichnet werden. Ein ähnlicher Gedanke wird durch die Tatsache zum Ausdruck gebracht, dass Gott Moses zu seinem Sprecher wählte, der „kein Mann der Worte“ war (Exod. 4:10). Er war ein Stotterer. Moses wurde Gottes Sprecher, weil die Menschen wussten, dass die Worte, die er sprach, nicht seine eigenen waren, sondern die ihm von Gott in den Mund gelegten.

Der deutlichste Beweis für diese Interpretation findet sich bei der Geburt des allerersten Menschenkindes. Bei ihrer ersten Geburt sagt Eva: „Mit der Hilfe Gottes habe ich einen Mann erworben [kaniti]. Dieses Kind, dessen Name von dem Verb „erwerben“ stammt, war Kain, der zum ersten Mörder wurde. Versuchen Eltern, ihre Kinder zu behandeln, als wären sie ihr Besitz, kann es nicht verwundern, wenn die Kinder rebellieren und gewalttätig werden.

Wenn die Analyse von Fustel de Colanges und Larry Siedentop richtig ist, dann stand etwas Grundlegendes auf dem Spiel. Solange Eltern glaubten, dass ihre Kinder ihnen gehörten, konnte das Konzept des Individuums nicht geboren werden. Die grundlegende Einheit war die Familie. Die Tora stellt die Geburt des Individuums als zentrale Figur des moralischen Lebens dar. Da Kinder – alle Kinder – Gott gehören, ist Elternschaft nicht Eigentum, sondern Pflegschaft. Sobald sie das Alter der Reife erreichen (traditionell zwölf Jahre für Mädchen, dreizehn für Jungen), werden Kinder zu unabhängigen moralischen Akteuren mit eigener Würde und Freiheit.[9]

Sigmund Freud hatte bekanntermaßen auch dazu etwas zu sagen. Er vertrat die Ansicht, dass eine grundlegende Triebkraft der menschlichen Identität der Ödipuskomplex ist, der Konflikt zwischen Vätern und Söhnen, wie er in Aischylos’ Tragödie dargestellt wird.[10] Durch die Schaffung eines moralischen Raums zwischen Vätern und Söhnen zeigt das Judentum eine friedvolle Lösung für diese Spannung auf. Hätte Freud seine Psychologie von der Tora und nicht vom griechischen Mythos abgeleitet, wäre er vielleicht zu einer hoffnungsvolleren Sicht der menschlichen Existenz gelangt.

Warum aber sagte Gott zu Abraham dann in Bezug auf Isaak: „Bring ihn als Brandopfer dar?“ Um allen künftigen Generationen deutlich zu machen, dass Juden Kinderopfer nicht etwa deshalb verurteilen, weil ihnen der Mut dazu fehlen würde. Dafür ist Abraham der Beweis. Der Grund, warum sie es nicht tun, ist, dass Gott der Gott des Lebens ist, nicht des Todes. Im Judentum ist der Tod nicht heilig, wie die Gesetze der Reinheit und der Ritus der Roten Kuh zeigen. Tod verunreinigt.

Die Tora ist nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft, sondern auch auf die Familie revolutionär. Wohl war die Revolution der Tora im biblischen Zeitalter noch nicht komplett abgeschlossen. Die Sklaverei war noch nicht abgeschafft, die Rechte der Frau nicht vollständig verwirklicht. Die Geburt des Individuums – die Integrität eines jeden Menschen als unabhängiger moralischer Akteur – war jedoch eine der großen moralischen Revolutionen der Geschichte.

[1] Führer der Unschlüssigen, Buch 3, Kapitel 24.

[2] Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, und Die Krankheit zum Tode (Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005).

[3] Joseph B. Soloveitchik, Majesty and Humility, Tradition 17:2, Spring. 1978, Seiten 25–37.

[4] Ibid., S. 36.

[5] Weiteres zu diesem Thema findet man bei Jonathan Sacks, Not in God’s Name (New York, Schocken, 2015).

[6] Fustel De Coulanges, Der antike Staat: Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms (Deutscher Taschenbuch Verlag), ursprünglich 1864 veröffentlicht.

[7] Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt (Klett-Cotta Verlag).

[8] Mary Douglas, Leviticus as Literature (Oxford, Oxford University Press, 1999).

[9] Es ist vielleicht kein Zufall, dass Janusz Korczak, der Gründer des berühmten Waisenhauses in Warschau, der zusammen mit den Waisenkindern in Treblinka umkam, der berühmteste Lehrer des „Rechts des Kindes auf Respekt“ war. Siehe Tomek Bogacki, The Champion of Children: The Story of Janusz Korczak (2009).

[10] Freud argumentierte in Totem und Tabu, dass der Ödipuskomplex auch in der Religion eine zentrale Rolle spielt.

  1. Vor welches moralische Dilemma werden wir durch die Geschichte von der Bindung Isaaks gestellt? Können Sie Argumente für beide Seiten dieses Dilemmas vorbringen?
  2. Welches der vier Argumente, die Rabbi Sacks gegen die konventionelle Lesart dieser Geschichte anführt, ist Ihrer Meinung nach das stärkste?
  3. Wie wirkt sich die Vorstellung, dass Kinder nicht das Eigentum ihrer Eltern sind, auf die von der Tora erwartete Handlungsweise von Eltern aus?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier