Feb ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Das Haus, das wir gemeinsam bauen

Die Abfolge der Wochenabschnitte, die mit Teruma beginnt und sich mit Tezave, Ki Tisa, Wajakhel
und Pekudej fortsetzt, ist in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Zunächst wird die Erstellung des Stiftzelts
(Mischkan), des tragbaren Heiligtums, das die Israeliten gebaut und mit sich durch die Wüste trugen, bis
ins kleinste Detail ausführlich beschrieben. Die Schilderung nimmt fast das gesamte letzte Drittel des
Buches Exodus ein. Warum so lang, warum so detailliert? War das Stiftzelt doch nur ein vorübergehendes
Zuhause für die göttliche Gegenwart, das am Ende vom Tempel in Jerusalem abgelöst wurde.
Und dann: Wieso steht die Errichtung des Mischkan überhaupt im Buche Exodus? Scheint doch sein
natürlicher Platz im Buch Wajikra zu sein, das sich überwiegend der Beschreibung der im Mischkan
dargebotenen Opfer widmet. Im Gegensatz dazu könnte das Buch Exodus den Untertitel „Die Geburt einer
Nation“ tragen. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der Israeliten von einer Familie zu einem Volk und
dessen Weg aus der Sklaverei in die Freiheit. Der Höhepunkt ist der Bund, der zwischen Gott und dem
jüdischen Volk am Berge Sinai geschlossen wird. Was hat das Stiftzelt damit zu tun? Es mutet seltsam an,
das Buch so ausklingen zu lassen.
Mit der Antwort wird uns, so scheint mir, eine tiefgreifende Wahrheit offenbart. Erinnern wir uns
zunächst an die bisherige Geschichte der Israeliten, geprägt von einer langen Reihe von Beschwerden. Sie
beschwerten sich, als die erste Intervention von Moses ihre Situation verschlimmerte. Dann warfen sie am
Schilfmeer Moses vor: „Es gab wohl keine Gräber in Ägypten, dass du uns weggeholt, damit wir in der Wüste
sterben? Was hast du uns da angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? Haben wir dir in Ägypten nicht
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gesagt: „Lass uns in Ruhe, lass uns den Ägyptern dienen; denn es wäre besser für uns, den Ägyptern zu
dienen, als in der Wüste zu sterben!“ (Exod. 14:11-12).
Nachdem sie das Meer überquert hatten, beschwerten sie sich weiter: zunächst über den
Wassermangel, dann über das bittere Wasser, ferner über den Mangel an Nahrung und ein weiteres Mal
über den Wassermangel. Innerhalb von Wochen nach der Offenbarung am Sinai – das einzige Mal in der
Geschichte, dass Gott einer ganzen Nation erschien – machten sie das Goldene Kalb. Wenn eine beispiellose
Folge von Wundern dem Volk nicht seine höhere Verantwortung ins Bewusstsein rufen kann, was dann?
Es war an diesem Punkt, dass Gott sagte: Lass sie etwas gemeinsam schaffen. Dieser einfache Befehl
verwandelte die Israeliten. Während des gesamten Baus des Stiftzelts gab es keine Beschwerden. Das
gesamte Volk beteiligte sich daran. Einige gaben Gold, Silber oder Bronze, einige brachten Felle und
Vorhänge, andere wiederum steuerten ihre Zeit und ihr Können bei. Sie brachten so viel, dass Moses ihnen
befehlen musste einzuhalten. Und somit wird ein bemerkenswerter Grundsatz formuliert: Nicht das, was
Gott für uns tut, verwandelt unser Wesen. Es ist vielmehr das, was wir für Gott tun.
Solange jede Herausforderung durch Moses und mit Hilfe von Wundern bewältigt wurde,
verblieben die Israeliten in einem Zustand der Abhängigkeit. Ihre gewohnheitsmäßige Reaktion war es,sich
zu beschweren. Um Reife und Verantwortung zu entwickeln, bedurfte es eines Übergangs aus dem Dasein
passiver Empfänger von Gottes Segen zu dem einer schöpferisch aktiven Nation. Das Volk musste Gottes
„Partner im Schöpfungswerk“ werden (Schabbat 10a). Ich glaube, das unsere Weisen dies im Sinn gehabt
haben, als sie sagten: „Nenne sie nicht, deine Kinder‘, sondern, deine Erbauer‘“ (Berachot 64a). Menschen
müssen zu Baumeistern werden, um aus der Kindheit in eine geistig-moralische Verantwortung
heranzureifen.
Das Judentum ist Gottes Aufruf, Verantwortung zu übernehmen. Er wünscht nicht, dass wir uns auf
Wunder verlassen oder von anderen abhängig sind. Vielmehr will Gott, dass wir seine Partner werden und
erkennen, dass obwohl alles, was wir haben, aus seiner Hand stammt, es doch ganz von uns, unseren
Entscheidungen und unserer Anstrengung abhängt, was wir daraus machen. Dies ist keine leicht zu
erreichende Balance. Es ist leicht, ein Leben in Abhängigkeit zu führen. Andererseits ist es ebenso leicht,
den Fehler zu begehen und zu sagen: „Meine Kraft und die Stärke meiner Hand haben dieses Vermögen
erworben“ (Deut. 8:17). Die jüdische Perspektive auf die menschliche Kondition ist, dass alles, was wir
erreichen, auf unsere eigenen Bemühungen zurückzuführen ist. Zugleich wird es jedoch im Wesentlichen
als das Resultat von Gottes Segen verstanden.
Der Bau des Stiftzeltes war das erste große Projekt, das die Israeliten gemeinsam unternahmen. Es
war das Ergebnis ihrer Großzügigkeit und ihres Könnens. Es ermöglichte ihnen, Gott ein wenig von dem
zurückzugeben, was er ihnen gegeben hatte. Es verlieh ihnen die Würde der Arbeit und des kreativen
Strebens. Es brachte die Phase ihrer nationalen Geburt zum Abschluss und symbolisierte die
Herausforderung der Zukunft. Die Gesellschaft, zu deren Gründung sie im Land Israel aufgerufen waren,
würde eine sein, in der jeder Einzelne seine individuelle Rolle spielen würde. Es sollte – in den Worten, die
ich als Titel für eines meiner Bücher gewählt habe – „das Haus, das wir gemeinsam bauen“1
, werden.
Daraus erkennen wir, dass für eine Führung eine der größten Herausforderungen darin besteht, den
Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Beitrag zu leisten, sich zu beteiligen. Das erfordert
Selbstbeherrschung (Zimzum) seitens der Führungskraft, um den Raum zu schaffen, in dem andere
Verantwortung übernehmen können. Das Sprichwort besagt: Ein Führer ist dann am besten, wenn ihn die
1 Jonathan Sacks, The Home We Build Together: Recreating Society (Bloomsbury Academic, 2009).
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Menschen kaum wahrnehmen. Wenn die Arbeit getan und das Ziel erreicht ist, werden sie sagen: „Wir
haben es selbst vollbracht.“2
Dies bringt uns zu der grundlegenden politischen Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft.
Der Staat repräsentiert, was die Regierungsmaschinerie mittels Gesetzen, Gerichten, Steuern und
öffentlichen Ausgaben für uns tut. Die Gesellschaft ist das, was wir durch Gemeinschaften, freiwillige
Vereinigungen und Wohltätigkeitsorganisationen füreinander tun. Ich glaube, dass das Judentum einen
deutlichen Schwerpunkt auf die Gesellschaft gegenüber dem Staat legt. Es erkennt – und dies ist das
Leitmotiv des Buches Exodus -, dass unsere Taten für andere uns verwandeln, nicht das, was andere oder
Gott für uns tun. In diesem Sinne lautet die jüdische Formel: kleiner Staat, große Gesellschaft.
Die Person mit der tiefsten Erkenntnis vom Wesen der Demokratie, war Alexis de Tocqueville. Als
er Amerika in den 1830er Jahren besuchte, sah er, dass die Stärke seiner Gesellschaft in der sogenannten
„Kunst der Vereinigung“ lag, der Tendenz der Amerikaner, sich in Gemeinschaften und freiwilligen
Vereinigungen zusammenzuschließen, um sich gegenseitig zu helfen, anstatt dies einer zentralisierten
Regierung zu überlassen. Wäre dieses Verhältnis umgekehrt und also der Einzelne vollständig vom Staat
abhängig, wäre die demokratische Freiheit gefährdet.
In einer der eindringlichsten Passagen seines Meisterwerks Demokratie in Amerika schreibt er, dass
Demokratien durch eine völlig neue Form der Unterdrückung gefährdet sind, für die es in der
Vergangenheit keinen Präzedenzfall gibt. Dies würde eintreten, wenn die Menschen nur für sich existierten
und das Streben nach dem Gemeinwohl der Regierung überließen. Das Leben würde dann so aussehen:
Über dieser Form menschlichen Daseins steht eine große, schützende Kraft, die allein die
Aufgabe übernimmt, ihre Befriedigung zu sichern und über ihr Schicksal zu wachen. Diese
Kraft ist umfassend, akribisch genau, rechtmäßig, fürsorglich und mild. Sie wäre gleich der
Autorität eines Elternteils, wenn sie wie diese Autorität das Ziel hätte, Männer auf das
Mannsein vorzubereiten. Doch versucht sie im Gegenteil, sie in ewiger Kindheit zu halten.
Es ist ihr nicht unrecht, dass sich die Menschen freuen, vorausgesetzt, sie denken an nichts
anderes, als sich zu freuen. Für die Art von Glück arbeitet eine solche Regierung bereitwillig.
Sie beansprucht jedoch, der einzige Agent und der einzige Vermittler dieses Glücks zu sein.
Sie sorgt für die Sicherheit der Menschen, sieht ihre Bedürfnisse voraus und befriedigt sie,
organisiert ihre Vergnügungen, verwaltet ihre Hauptanliegen, lenkt ihre Industrie, reguliert
die Übertragung von Eigentum und teilt ihre Erbschaften auf. Verbleibt ihr noch, ihnen die
ganze Anstrengung des Denkens zu ersparen und die gesamte Mühe des Lebens
abzunehmen?3
Tocqueville hat diese Worte vor fast 200 Jahren geschrieben, und es besteht die Gefahr, dass dies
heute einigen europäischen Gesellschaften widerfährt: ganz Staat, keine Gesellschaft; vollkommen
Regierung, wenig oder keine Gemeinschaft.4 Tocqueville war kein religiöser Autor, er bezieht sich nicht auf
die hebräische Bibel. Die von ihm zum Ausdruck gebrachte Angst ist jedoch genau das, was das Buch Exodus
2 Lao-Tsu zugeschrieben.
3 Alexis De Tocqueville, Democracy in America, gekürzt und mit einer Einführung von Thomas Bender (The Modern
Library, New York, 1981), S. 584.
4 Dies bedeutet nicht, dass Regierungen keine Rolle spielen, dass alles freiwilligen Vereinigungen überlassen werden
sollte. Weit davon entfernt. Es gibt Dinge, die nur Regierungen erreichen können: von der Rechtsstaatlichkeit über
die Verteidigung bis hin zur Durchsetzung ethischer Standards und zur Schaffung einer gerechten, für eine würdige
Existenz notwendigen Verteilung der Güter. Das Problem ist das Gleichgewicht.
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beschreibt. Wenn eine zentrale Macht – auch wenn dies Gott selbst ist – alles für das Volk tut, verharren die
Menschen in einem Zustand gehemmter Entwicklung. Sie beschweren sich, anstatt zu handeln. Leicht
geben sie der Verzweiflung Raum. Wenn ihr Anführer, in diesem Fall Moses, abhanden kommt, geraten sie
auf Abwege, bis hin zum Goldenen Kalb.
Es gibt nur eine Lösung: die Menschen an der Architektur ihres eigenen Schicksals zu beteiligen, sie
dazu zu bringen, etwas gemeinsam zu schaffen, sie zu einem Team zu vereinen und ihnen zu zeigen, dass
sie nicht hilflos sind, dass sie verantwortlich und zu kooperativem Handeln fähig sind. Das Buch Genesis
beginnt damit, dass Gott das Universum als ein Zuhause für den Menschen schafft. Der Exodus endet damit,
dass Menschen den Mischkan als ein „Zuhause“ Gottes errichten.
Hier leitet sich das Grundprinzip des Judentums ab, dass wir aufgerufen sind, uns an der Schöpfung
Gottes zu beteiligen. Damit verbindet sich auch die Konsequenz, dass die Führer dem Volk die Arbeit nicht
abnehmen. Sie bringen den Menschen bei, wie sie die Arbeit selbst verrichten.
Es ist nicht das, was Gott für uns tut, sondern, was wir für Gott tun, das uns Verantwortung
und Würde verleiht.