Nov ‍‍2021 - תשפא / תשפב

Das Gleichnis von den Stämmen

  Vom Anfang bis zum Ende des Kapitels 34 erzählt das Buch Genesis eine grauenvolle Geschichte. Dina, Jakobs Tochter – die einzige in der gesamten patriarchalischen Erzählung namentlich erwähnte jüdische Tochter – verlässt die Sicherheit ihres Zuhauses, um hinauszugehen und „sich die Töchter des Landes anzusehen.“ (Gen. 34:1) Sie wird von einem einheimischen Prinzen, dem Sohn des Königs der Stadt Schechem, vergewaltigt und entführt.

Jakob erfährt davon, unternimmt aber nichts, bis seine Söhne zurückkehren. Dinas Brüder Simeon und Levi erkennen sofort, dass sie handeln müssen, um sie zu retten. Es ist eine fast unmögliche Aufgabenstellung. Der Geiselnehmer ist kein gewöhnlicher Mensch. Da er der Sohn des Königs ist, kann er nicht direkt konfrontiert werden. Es ist unwahrscheinlich, dass der König seinem Sohn befehlen wird, Dina freizulassen. Die anderen Stadtbewohner werden den Prinzen verteidigen, sollten sie ihn herausfordern. Simeon und Levi gegen die Stadt, zwei gegen viele. Selbst wenn sie alle Söhne Jakobs mitbeteiligen würden, wären sie zahlenmäßig noch immer unterlegen.

Simeon und Levi ersinnen daher eine List: Sie erklären sich bereit, Dina den Prinzen heiraten zu lassen, stellen aber eine Bedingung. Alle männlichen Einwohner der Stadt müssen sich der Beschneidung unterziehen. Die Männer von Schechem, die in einem Bündnis mit dem Nachbarstamm langfristige Vorteile sehen, stimmen zu. Die Männer der Stadt sind durch den Eingriff geschwächt, und ihre Schmerzen sind am dritten Tag am stärksten. An diesem Tag dringen Simeon und Levi in die Stadt ein und töten die gesamte männliche Bevölkerung. Sie retten Dina und bringen sie nach Hause. Dann plündern die anderen Brüder die Stadt.

Jakob ist entsetzt über ihr Vorgehen: „Ihr habt mich bei den Bewohnern des Landes verhasst gemacht“ (Gen. 34:30). „Was hätten wir denn tun sollen?“, fragen die beiden Brüder. „Hätten wir unsere Schwester wie eine Prostituierte behandeln lassen sollen?“ Mit dieser rhetorischen Frage endet die Begebenheit und die Erzählung führt zu einem anderen Schauplatz. Doch Jakobs Entsetzen über das Verhalten seiner Söhne ist damit noch nicht zu Ende. Auf seinem Sterbebett kommt er darauf zurück und verflucht sie gleichermaßen:

„Simeon und Levi sind Brüder –

ihre Schwerter sind Waffen der Gewalt.

Lass mich nicht in ihren Rat kommen,

lass mich nicht an ihrer Zusammenkunft teilnehmen,

denn in ihrem Zorn haben sie Menschen getötet

und nach Belieben Ochsen aufgehängt.

Verflucht sei ihr Zorn, der so heftig ist,

und ihr Grimm, so grausam!

Ich will sie zerstreuen in Jakob

und sie zerstreuen in ganz Israel“ (Gen. 49:5-7).

Der von Dina handelnde Abschnitt ist eine außergewöhnliche Geschichte. Sie scheint keinerlei moralische Botschaft zu enthalten, keiner kommt gut aus ihr heraus. Schechem, der Fürst, scheint der Hauptschurke zu sein. Er war es, der Dina überhaupt erst entführt und vergewaltigt hat. Chamor, sein Vater, versäumt es, ihn dafür zu tadeln oder Dinas Freilassung anzuordnen. Simeon und Levi machen sich eines entsetzlichen Gewaltakts schuldig. Die anderen Brüder beteiligen sich an der Plünderung der Stadt.[1] Währenddessen scheint Jakob vollkommen passiv zu sein. Er handelt nicht und gibt seinen Söhnen auch keine Anweisungen, wie sie sich verhalten sollen. Sogar Dina selbst scheint sich bestenfalls der Unachtsamkeit schuldig gemacht zu haben, als sie sich in eine offenkundig gefährliche Gegend begab – man erinnere sich, dass sowohl Abraham als auch Isaak, ihr Großvater und ihr Urgroßvater, wegen der Gesetzlosigkeit der damaligen Zeit um ihr eigenes Leben fürchteten.[2]

Wer im Recht und wer im Unrecht war, wird im Text auffallend unentschieden gelassen. Jakob verurteilt seine Söhne, aber seine Söhne weisen die Kritik zurück.

Die Debatte setzt sich fort und wird von zwei der größten Rabbiner des Mittelalters aufgegriffen. Maimonides ergreift Partei für Simeon und Levi. Er sagt, dass sie sich mit ihrem Handeln im Recht befanden. Die Bewohner der Stadt hätten ja gesehen, was Schechem getan hatte, wussten, dass er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte, und dennoch brachten sie ihn weder vor Gericht, noch retteten sie das Mädchen. Sie machten sich also zu Mitschuldigen. Was Schechem getan hatte, war ein Kapitalverbrechen, und indem sie ihm Unterschlupf gewährten, waren die Einwohner der Stadt ebenso darin verwickelt.[3] Diese Beurteilung der Sachlage ist übrigens hochinteressant, da sie darauf hindeutet, dass für Maimonides die Regel, dass „ganz Israel füreinander verantwortlich ist“ (Shewuot 39a), nicht nur auf Israel, sondern gleichermaßen für alle Gesellschaften gilt. Wie Isaac Arama im fünfzehnten Jahrhundert schrieb, ist jedes Verbrechen, das bekannt ist und trotzdem zugelassen wird, nicht mehr nur ein Vergehen Einzelner, sondern eine Sünde der gesamten Gemeinschaft.[4]

Nahmanides ist jedoch anderer Meinung (in seinem Kommentar zu Gen. 34:13). Das Prinzip der kollektiven Verantwortung ist seiner Ansicht nach nicht auf nicht-jüdische Gesellschaften anzuwenden. Der Noachidische Bund verlangt von jeder Gesellschaft, Gerichte einzurichten, aber er impliziert nicht, dass das Versäumnis, einen Übeltäter zu verfolgen, alle Mitglieder der Gesellschaft in eine Todsünde verwickelt.

Die Debatte geht heute unter Bibelwissenschaftlern weiter. Vor allem zwei unterziehen die Geschichte einer genauen literarischen Analyse: Meir Sternberg in seinem Werk The Poetics of Biblical Narrative[5] und Rabbi Elchanan Samet in seinen Studien zur Parascha.[6]  Auch sie kommen zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen. Sternberg argumentiert, der Text kritisiere Jakob sowohl für seine Untätigkeit als auch für seine Kritik an seinen Söhnen für ihr Handeln. Samet hingegen sieht in Schechem und Chamor die Hauptschuldigen.

Beide weisen jedoch auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass der Text die moralische Zweideutigkeit absichtlich steigert, indem er es unterlässt, selbst die offensichtlichen Bösewichte in einem übermäßig negativen Licht darzustellen. Nehmen wir den Hauptübeltäter, den jungen Prinzen Schechem. Der Text sagt uns: „Sein Herz hing an Dina, der Tochter Jakobs; er liebte die junge Frau und sprach zärtlich zu ihr. Und Schechem sagte zu seinem Vater Chamor: ,Nimm mir dieses Mädchen zur Frau‘“ (Gen. 34:3-4). Man vergleiche dies nur mit der Beschreibung von Amnon, dem Sohn von König David, der seine Halbschwester Tamar vergewaltigt. Auch diese Geschichte ist eine Geschichte der blutigen Rache. Der Text sagt jedoch über Amnon, dass er Tamar nach ihrer Vergewaltigung „zutiefst hasste. Tatsächlich verabscheute er sie mehr, als er sie je zuvor geliebt hatte. Amnon sprach zu ihr: ,Steh auf und geh weg!‘“ (II Samuel 13:15). Schechem ist ganz und gar nicht so. Er verliebt sich in Dina und will sie ehelichen. Der König und die Bewohner der Stadt gehen bereitwillig auf die Bitte von Simeon und Levi ein, sich beschneiden zu lassen.

Der Text unterlässt es nicht nur, die Bewohner von Schechem zu verteufeln, er stellt auch niemanden aus Jakobs Familie in einem positiven Licht dar. Er verwendet für Simeon und Levi dasselbe Wort – „Betrug“ (Gen. 34:13) – wie zuvor für Jakob, der Esaus Segen nahm, und für Laban, der Rachel mit Lea vertauschte. Die Schilderung aller Beteiligten – von der herumwandernden Dina über ihre übermäßig gewalttätigen Retter bis hin zu den plündernden anderen Brüdern und dem passiven Jakob – scheint bewusst so geschrieben worden zu sein, um Zweifel an unseren Sympathien aufkommen zu lassen.

Insgesamt ist das Ergebnis eine Geschichte, in der sowohl unverbesserliche Schurken als auch makellose Helden fehlen. Warum wird sie dann überhaupt erzählt? Begebenheiten erscheinen in der Tora nicht einfach nur deshalb, weil sie sich ereignet haben. Die Tora ist kein Geschichtsbuch. Sie schweigt über einige der wichtigsten Zeitabschnitte. Wir wissen zum Beispiel nichts über Abrahams Kindheit oder über achtunddreißig der vierzig Jahre, die die Israeliten in der Wüste verbrachten. Tora bedeutet „Lehre“, „Anleitung“, „Führung“. Welche Lehre will uns die Tora mit dieser Erzählung vermitteln, bei der niemand gut wegkommt?

Es gibt ein wichtiges Gedankenexperiment, das von Andrew Schmookler entwickelt wurde und als Gleichnis der Stämme bekannt ist.[7] Stellen Sie sich eine Gruppe von Stämmen vor, die nahe beieinander leben. Alle entscheiden sich für ein friedliches Miteinander, bis auf einen, der bereit ist, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen. Was geschieht mit den Stämmen, die Frieden suchen? Einer wird besiegt und vernichtet. Ein zweiter wird besiegt und unterworfen. Ein dritter flieht an einen abgelegenen und unzugänglichen Ort. Will der vierte versuchen, sich zu verteidigen, muss auch er auf Gewalt zurückgreifen. „Die Ironie der Sache ist, dass die erfolgreiche Verteidigung einer Gesellschaft gegen einen machtbesessenen Angreifer voraussetzt, dass sie der Gesellschaft ähnlicher wird, die sie bedroht. Macht kann nur durch Macht aufgehalten werden.“[8]

Es gibt, mit anderen Worten, vier mögliche Resultate: [1] Zerstörung, [2] Unterwerfung, [3] Rückzug und [4] Nachahmung. „Bei jedem dieser Ergebnisse werden die Wege der Macht im System ausgeweitet. Dies ist das Gleichnis von den Stämmen.“[9] Vergegenwärtigen wir uns, dass alle Stämme bis auf einen friedliebend waren und nicht den Wunsch hatten, Macht über ihre Nachbarn auszuüben. Bringt man jedoch einen einzigen gewalttätigen Stamm in die Region, wird die Gewalt schließlich die Oberhand gewinnen, wie auch immer die anderen Stämme darauf reagieren werden. Das ist die Tragödie des menschlichen Wesens.

Als ich diesen Aufsatz im Sommer 2014 schrieb, befand sich Israel in einem erbitterten Konflikt mit der Hamas im Gazastreifen, bei dem viele Menschen starben. Der Staat Israel hatte genauso wenig Lust auf diese Art der Kriegsführung wie unser Vorfahre Jakob. Während der gesamten Auseinandersetzung waren mir die Worte in unserer Parascha über Jakobs Gefühle vor seiner Begegnung mit Esau im Bewusstsein: „Jakob war sehr ängstlich und erschrocken“ (Gen. 32:8), worüber die Weisen sagten: „ängstlich, vor der Gefahr, getötet zu werden, erschrocken vor der Möglichkeit, zum Töten gezwungen zu werden.“[10] Was uns die Begebenheit mit Dina sagt, ist nicht, dass Jakob oder Simeon und Levi recht hatten, sondern dass es Situationen geben kann, in denen es keine richtige Handlungsweise gibt; in denen alles, was man tut, falsch ist; in denen jede Option die Aufgabe eines moralischen Prinzips bedeutet.

Das ist der Punkt, auf den Schmookler hinaus will: „Macht ist wie eine Verunreinigung, eine Krankheit, die, wenn sie erst einmal eingeschleppt ist, allmählich, aber unaufhaltsam im System der konkurrierenden Gesellschaften allgegenwärtig wird.“[11] Schechems einziger Gewaltakt gegen Dina zwang zwei von Jakobs Söhnen zu gewaltsamer Vergeltung, und am Ende waren alle entweder mitbelastet oder tot. Es ist bezeichnend für die moralische Tiefe der Tora, dass sie diese schreckliche Wahrheit nicht vor uns verbirgt, indem sie weder die eine Seite als schuldig noch die andere als unschuldig darstellt.

Gewalt verunreinigt uns alle. Damals wie heute.

[1] Eine Handlung, die biblisch missbilligt wird: siehe Deut. 13:13-19, I Samuel 15:13-26, Esther 9:10, 9:15-16.

[2] Der Midrasch kritisiert Dina: siehe Midrasch Aggada (Buber) zu Gen. 34:1. Der Midrasch Sechel Tow kritisiert sogar ihre Mutter Lea dafür, dass sie ihr erlaubt hat, nach Schechem zu gehen.

[3] Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Melachim 9:14.

[4] Arama, Akeidat Yizchak, Berejshit, Wajera, Portal 20, s.v. Uwemidrash.

[5] Sternberg, Meir, The Poetics of Biblical Narrative: Ideological Literature and the Drama of Reading (Bloomington, Indiana UP, 1985), 444-81.

[6] Elchanan Samet, Ijunim Beparaschat Haschewua, Serie 3 (Israel, Jediot Acharonot, 2012), S. 149-171.

[7] Andrew Bard Schmookler, The Parable of the Tribes: The Problem of Power in Social Evolution (Berkeley, University of California, 1984).

[8] Ibid., S. 21.

[9] Ibid., S. 22.

[10] Zitiert von Raschi ad loc.

[11] Schmookler, ibid., S. 22.

  1. Können Sie in dieser Geschichte irgendwelche unschuldigen Parteien ausmachen?
  2. Glauben Sie, dass das Judentum eine Religion des Pazifismus ist? Welche Beweise können Sie für Ihren Standpunkt anführen?
  3. Welche Werte können wir Ihrer Meinung nach aus dieser Geschichte ableiten?

Die Parascha in anderen Sprachen finden Sie hier