Jan ‍‍2019 - תשעט / תשף

Ausgrenzung

AUSGRENZUNG
Altes Muster
vor 3500 Jahren Propagandamittel ein, um Juden zu diffamieren

Das zweite Buch Mose erzählt die Geschichte der Entstehung des Volkes Israel, von den Anfängen als Familienclan Jakows bis zum selbstbewussten Volk, das den Pharao herausfordert und Ägypten schließlich verlässt. Diese Entwicklung spiegelt sich gleich in den ersten Versen des Buches wider. Dreimal lesen wir dort den Begriff »Bnei Israel«. Während es im ersten Vers mit Sicherheit noch wortwörtlich zu übersetzen ist, also mit »Söhne Israels (Jakows)«, ist die Bedeutung in den Versen 7 und 9 wohl eher schon »Volk Israel«, wofür Bnei Israel auch im Folgenden das Synonym sein wird.
Unser Wochenabschnitt heißt – genauso wie das ganze Buch – »Schemot«, auf Deutsch: »Namen«. Er beginnt mit der Aufzählung der Namen der Familienmitglieder Jakows, die nach Ägypten kamen. Die Tora spricht von 70 Personen, aber es handelte sich dabei wohl nur um die Männer. Wenn wir also noch die Frauen, Kinder, Enkel, die Bediensteten und deren Familien hinzuzählen, sind wahrscheinlich ein paar Hundert, vielleicht sogar ein paar Tausend nach Ägypten gekommen. Und selbst diese Zahl vergrößerte sich bald um ein Vielfaches.
VERBUNDEN In der Tora heißt es: »Das Volk Israel war fruchtbar, hatte zahlreiche Geburten (wörtlich: es vermehrte sich schwarmähnlich), wurde in großem Übermaß viel, wurde sehr stark, und das Land war voll von ihm« (Schemot, 2. Buch Mose 1,7). Da die Tora so viele Wörter für »Vermehrung« in nur einem Vers verwendet, müssen wir davon ausgehen, dass das Volk Israel stark anwuchs und auch generell prosperierte.
Trotzdem blieben die Menschen eng miteinander verbunden. Dies können wir aus dem fünften Vers ableiten, in dem es heißt, dass 70 Seelen nach Ägypten kamen. Im hebräischen Text lesen wir Nafesch (also Seele, singular), nicht Nefaschot (Seelen, im Plural), wie es richtig wäre. Das ganze Volk war also wie eine Seele, wie eine große Familie.
Diese Entwicklung gefiel allerdings nicht jedem in Ägypten. Als ein neuer Pharao an die Macht kam, kannte er Josef nicht mehr (1,8) – oder vielleicht wollte er ihn nicht mehr kennen, so der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) – und damit natürlich auch all das Gute, das Josef für Ägypten geleistet hatte. Offensichtlich wurden die Israeliten dem Pharao zu einflussreich, oder er wurde neidisch, weil es ihnen einfach zu gut ging. Vielleicht empfand er das auch nur subjektiv, und rational betrachtet war es ganz anders.
Wie auch immer, diese Vorgehensweise ist typisch für die Geschichte des jüdischen Volkes. Die Juden waren immer willkommen, weil sie halfen, die lokale Wirtschaft zu beleben oder nützliche Berufe oder andere Begabungen mitbrachten. Sobald sie dann ihre Aufgabe erfüllt hatten oder es ihnen gut ging oder es einfach gerade politisch opportun schien, wurden sie diskriminiert, vertrieben – und manchmal geschah noch Schlimmeres mit ihnen. Dies war zu verschiedenen Zeiten in vielen Ländern Europas so.
BESCHWERDE Eigentlich hatte der Pharao gar nichts Negatives gegen die Israeliten vorzubringen – außer, dass sie angeblich zu zahlreich wurden (1,9). Es ist auch nirgendwo erwähnt, dass sich das ägyptische Volk beschwert hätte. Vielleicht konnten sich die Menschen noch an die guten Taten von Josef erinnern.
Also setzte der Pharao Propaganda ein, um die Israeliten zu diffamieren. Er bringt eine Behauptung gegen sie vor, die so klassisch wie zeitlos ist: »Wenn nun Krieg werden sollte, so könnte dieses Volk zu unseren Feinden übergehen und gegen uns streiten oder aus dem Land ziehen« (1,10).
Die Israeliten, die laut der Tora loyale Bürger Ägyptens waren, werden dargestellt, als meinten sie es nicht ehrlich, als wären sie Feinde und würden Ägypten bei erstbester Gelegenheit verraten, ja gegen die Ägypter kämpfen. Leider hat dieses Vorurteil kein bisschen an Aktualität verloren. So forderte erst kürzlich der ungarische Parlamentsabgeordnete Márton Gyöngyösi von der rechtsextremen Jobbik‐Partei, Juden auf Listen zu erfassen, vor allem Juden im Parlament und in der Regierung, weil sie ein »nationales Sicherheitsrisiko« darstellen würden. Diese Forderung ähnelt auf verblüffende Weise dem Vorwurf des Pharaos vor rund 3500 Jahren.
Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt die Motivation des Pharaos mit der Unterdrückung des eigenen Volkes. Er versucht, eine Minderheit als Paria‐Volk auszugrenzen. Die Ägypter können an ihnen dann ihren Frust über die eigene Unterdrückung abreagieren.
Die Maßnahmen gegen die Israeliten folgen ganz typisch dem Muster des staatlichen Antisemitismus, beispielsweise in Nazideutschland: Erst mussten sie Sondersteuern zahlen, dann wurden ihre Rechte eingeschränkt, bis sie schließlich Sklaven waren. Als all das die Israeliten nicht schwächte, folgte der systematische Mord (1, 11–16).
ZUGEHÖRIG Die Geschichte zeigt uns, dass wir Juden als Schicksalsgemeinschaft (Martin Buber) miteinander verbunden sind. Wir sollten daher stolz unsere Zugehörigkeit zum jüdischen Volk betonen und die Berufung annehmen. Das heißt nicht, dass wir uns damit von unserer nichtjüdischen Umwelt abgrenzen sollen. Ganz im Gegenteil: Josef beispielsweise war ägyptischer Minister und trotzdem auch stark mit dem Judentum verbunden.
Der jüdische Glaube widerspricht diametral der Ideologie des Pharaos oder rechtsextremer Gruppierungen heute: Wir sollen den Fremden lieben. Und warum? Eben gerade weil wir selbst Fremde in Ägypten waren. Unsere Erfahrung als Sklaven in Ägypten soll uns sensibel dafür machen, wie es anderen Fremden, Minderheiten oder Verfolgten geht. Für das Judentum stehen Grund‐ und Menschenrechte sowie Gerechtigkeit im Vordergrund. Für Rassismus oder Ausgrenzung ist kein Platz. Die Geschichte zeigt, dass wir auch heute noch dafür einstehen müssen.

Aus: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 02.01.2013