Jan ‍‍2018 - תשעח / תשעט

Auf dem Weg in die Freiheit

EXODUS
Auf dem Weg in die Freiheit
Was wir aus der Geschichte von der Spaltung des Schilfmeeres lernen können
Wochenabschnitt lesen wir von der Spaltung des Schilfmeeres, mit der die vollständige Befreiung der Israeliten ihren Anfang nahm. Wir können aus dieser Spaltung mehreres lernen, zum Beispiel Dankbarkeit. Im 2. Buch Mose 13,18 heißt es: »Bewaffnet kamen die Kinder Israels aus dem Land Ägypten herauf.«. Doch warum hat G’tt den Israeliten nicht befohlen, am Ufer des Schilfmeers gegen die Ägypter zu kämpfen?

Die Antwort ist: Die Ägypter hatten den Kindern Israels am Anfang viel Gastfreundschaft entgegengebracht – die allerdings später in Sklaverei und Unterdrückung umschlug.
Doch weil wir nicht in den Brunnen spucken dürfen, aus dem wir getrunken haben, hat G’tt uns befohlen, die Ägypter nicht zu verabscheuen. Denn es heißt: »Du bist ein Fremdling in seinem Land gewesen« (5. Buch Mose 23,8).

TIKKUN OLAM Dankbarkeit ist eine wichtige Eigenschaft. Sie ist heute für viele ein schwieriger Begriff. Doch das Judentum weist immer wieder darauf hin, dass wir nicht auf sie verzichten können, denn durch Dankbarkeit entsteht eine bessere Gesellschaft (Tikkun Olam).

Halbkreis Weiter können wir aus der Spaltung des Schilfmeeres lernen, dass G’ttes Wege unergründlich sind. Meistens geht man davon aus, dass sich das Meer über die ganze Breite von einem Ufer bis zum anderen spaltete und die Kinder Israels so in die Freiheit gelangten.

Der Rambam, Maimonides (1135–1204), ist jedoch der Meinung, dass sich das Meer nach der Anzahl der Stämme in zwölf Wege spaltete. Diese untiefen Stellen hatten die Form eines Halbkreises, sodass die Kinder Israels auf derselben Seite aus dem Schilfmeer herauskamen, auf der sie hineingegangen waren. Oft verstehen wir G’ttes Wege nicht. Aber wir können sicher sein, dass alles seine Bedeutung und seinen Grund hat.

Im 2. Buch Mose 14,22 steht geschrieben: »Und dann gingen die Kinder Israels im Trockenen durch das Meer.« Der Midrasch fragt: »Wenn man im Meer ankam, weshalb heißt es dann ›im Trockenen‹? Und wenn es trocken war, weshalb heißt es dann Meer?«

Hieraus lernt man, dass das Meer sich erst spaltete, als den Israeliten das Wasser bis zum Halse stand. Ein wichtiger Gedanke – man muss also Mut und Aufopferungsbereitschaft zeigen. Ohne sie geht nichts im Judentum! Auch das lernen wir aus der Spaltung des Schilfmeeres.

TATEN Im Talmud (Sota 36b) meint Rabbi Meir: Als die Kinder Israels am Ufer des Schilfmeeres standen, stritten die Stämme miteinander, denn jeder wollte als Erster ins Meer steigen.
Da sagte Rabbi Jehuda zu Rabbi Meir: Aber es kam anders! Bald rief der eine Stamm, er wolle nicht als Erster ins Meer steigen, und die anderen Stämmen wollten ebenfalls nicht die Ersten sein. Daraufhin sprang schließlich Nachschon ben Aminadav zuerst ins Meer (37a).

Rabbi Meir meint, am Anfang habe jeder ernsthaft geäußert, als Erster ins Meer zu springen. Rabbi Jehuda stimmt zu, dass sie das anfangs tatsächlich alle riefen, aber als es in die Tat umgesetzt werden sollte, begannen plötzlich alle zu zweifeln und drückten sich. Auf einmal sollte der andere als Erster ins Wasser gehen – bis schließlich Nachschon die Initiative ergriff und tatsächlich ins Meer sprang. Wir lernen daraus: Auf Worte sollten Taten folgen!
Nach der Spaltung des Schilfmeeres steht geschrieben: »Und Mosche neigte seine Hand über das Meer, da kam das Meer gegen Morgen zurück zu seiner vorigen Gewalt.«

Raschi (1040–1105) erklärt, dass das Meer seine ursprüngliche Kraft wiedergewann. Dies ist schwer zu verstehen. Es ist logisch, dass es zu seiner Ursprungskraft zurückkehrte – warum muss die Tora es ausdrücklich erwähnen? Nachdem ein Staudamm das Wasser zurückgehalten hat, strömt es, sobald die Sperre aufgehoben wird, mit gewaltiger Kraft in sein ursprüngliches Becken zurück.

Doch nach der Spaltung des Schilfmeeres war dies nicht so. Als Mosche die Aufforderung bekam, seine Hand gegen das Meer zu strecken, kehrte es zu seiner ursprünglichen Kraft zurück, ohne vorübergehend eine brausende, schäumende Wassermasse zu sein.

Die Tora zeigt, dass der natürliche Zustand aller Elemente der bevorzugte ist. Wenn G’tt die Natur außer Kraft setzt, dann tut Er dies so wenig einschneidend wie möglich. Das Wasser kehrte also ohne viel Aufhebens zu seiner ursprünglichen Kraft zurück.

WUNDER Dahinter verbirgt sich eine wichtige Lektion für unseren Alltag: Das Judentum soll unter den geläufigsten und alltäglichsten Umständen erlebt und bezeugt werden. Wunder sind schön, aber im Judentum dreht sich alles um die Heiligung der natürlichen Schöpfung. Erst gegen Ende, als das Meer sie bereits verschlang, wurde den Ägyptern klar, dass der Ewige G’tt ist. Warum erst so spät? Warum sahen sie nicht schon früher ein, dass sie es mit einem Wunder zu tun hatten und dass sie G’tt als Herrscher über die Natur anerkennen sollten?

Der Neziw, Rabbi Naftali Zvi Jehuda Berlin aus Woloschin (1816–1893), sagt: Die Ägypter dachten, dass die Kinder Israels bei Ebbe das Meer überquerten und deshalb im Trockenen liefen. Und genau in dem Moment, als den Ägyptern bewusst wurde, dass das Wasser über ihnen zusammenbrach und es eine enorme Flut gab, erst da begriffen sie, dass ein großes Wunder geschah, um die Israeliten zu retten.

RÜCKSCHLÄGE Im 2. Buch Mose 14,22 steht geschrieben: »Die Kinder Israels gingen im Trockenen durch das Meer.« Kurz danach, in Vers 29, steht: »Und die Kinder Israels gingen im Trockenen mitten durch das Meer.«

Dies lehrt uns etwas Wichtiges: Wenn wir in einer schwierigen Lage sind, stehen wir gewissermaßen »mitten im Meer«. Doch sollten wir uns im Klaren darüber sein, dass wir mit einem Wimpernschlag Hilfe von oben herbeiführen können. Stürmisches Wasser kann in kürzester Zeit wieder zum »Trockenen« werden.
Andererseits: Wenn der Mensch glaubt, er sei stark, stehe mit beiden Beinen auf dem Boden und habe seine Schäfchen im Trockenen, oder er meint, er habe es mit seiner Hände Kraft ausgerichtet – just dann wird er merken, dass das Trockene sich ganz plötzlich in Meer verwandeln kann und alles instabil wird. Dies ist ein wichtiger Gedanke gerade in einer Zeit wie unserer, in der viele meinen, sich gegen alles Mögliche absichern und versichern zu können.
Aus Allgemeine Jüdische Wochenzeitung – 25.01.2018